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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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zu der verdienten Unbedeutendheit zusammengeschrumpft sein: die Herren
v. Schweitzer, Bebel und Liebknecht thun im Reichstag- weit weniger Schaden,
als wenn sie draußen geblieben wären und nun über die Ausschließung ihrer
Partei declamiren könnten. Wie die Sache jetzt steht, darf man nicht glauben,
daß die Radicalen sich bei dem Resultat zufrieden geben werden. Sie haben
zu ihrer Enttäuschung gesehen, daß sie bei einem allgemeinen Appell an den
Liberalismus des Landes niemals das Parlament bekommen werden, nach
welchem sie streben; sie werden daher darauf bedacht sein, solche Fragen aus
die Tagesordnung zu bringen, welche die arbeitende Bevölkerung zu einer
Partei gegen die Mittelclassen vereinigen, könnten. Zunächst wird wohl bei
der Correctur der Reformbill das Ballot, die geheime Abstimmung, zur
Sprache kommen. Unserer Ansicht nach ist es eine Täuschung, davon Hilfe
gegen Bestechung und Einschüchterung zu erwarten, welche sich auf beiden
Seiten trotz der neuen Bill gegen beides bei den letzten Wahlen so breit
gemacht haben; es wird nur zu mehr Heuchelei und zur Unterdrückung der
freien Discussion führen. Indeß, wie auch die Entscheidung darüber aus¬
fallen mag, für politische Machtfragen herrscht in den unteren Schichten der
Gesellschaft geringes Interesse, man kann sie in ihrer Tiefe nur aufrühren
durch religiöse, nationale oder ökonomische Fragen. Kirchliche Fragen von
Belang können die Radicalen augenblicklich nicht anbringen; was die irische
Kirche betrifft, so hat sie unter den arbeitenden Classen wahrscheinlich eben¬
soviel Anhänger als Gegner, das no popvi^ findet im ungebildetsten Theile
des Volkes noch am meisten Anklang. Auch die einzige nationale Frage
die sie angeregt: "Gerechtigkeit für Irland", hat keine Sympathie unter den
Arbeitern, welche vielmehr die Jrländer hassen, weil dieselben geringeren
Lohn nehmen und ihnen den Markt verderben. Aber um so empfänglicher
werden sie für ökonomische Fragen sein und daß die Radicalen damit um¬
gehen, diese aufs Tapet zu bringen, läßt sich schon aus den neuesten Reden
von Bright schließen; a, trss dreal:kg.se tadle ist der Ruf den er erhebt: die
Zölle auf Thee, Kaffee und Zucker sollen abgeschafft werden. nationalöko-
nomisch kann es nichts Verkehrteres geben, als diese Loosung; die englische
Steuergesetzgebung ist nach den großen Reformen Peel's und Gladstone's
musterhaft, alle nothwendigen Bedürfnisse, wie Fleisch, Getreide, Milch,
Kleidungsstücke u. f. w. sind vollkommen frei; England kennt weder Schlacht-
noch Mahlsteuer, noch Belastung der Rohstoffe. Das Budget wird haupt¬
sächlich aufgebracht einmal durch die Zölle auf Thee, Kaffee, Zucker, Tabak,
Wein und einige weniger bedeutende Artikel, sodann durch die Bier- und
Spirituosensteuer (exeisch, zusammen 43 Will. Pfd. Sterl., die einzige große
directe Staatssteuer; die income ox gibt daneben nur 6 Mill. Die indirecten
Steuern sind keineswegs drückend; sie belasten Artikel, welche stets consumirt


zu der verdienten Unbedeutendheit zusammengeschrumpft sein: die Herren
v. Schweitzer, Bebel und Liebknecht thun im Reichstag- weit weniger Schaden,
als wenn sie draußen geblieben wären und nun über die Ausschließung ihrer
Partei declamiren könnten. Wie die Sache jetzt steht, darf man nicht glauben,
daß die Radicalen sich bei dem Resultat zufrieden geben werden. Sie haben
zu ihrer Enttäuschung gesehen, daß sie bei einem allgemeinen Appell an den
Liberalismus des Landes niemals das Parlament bekommen werden, nach
welchem sie streben; sie werden daher darauf bedacht sein, solche Fragen aus
die Tagesordnung zu bringen, welche die arbeitende Bevölkerung zu einer
Partei gegen die Mittelclassen vereinigen, könnten. Zunächst wird wohl bei
der Correctur der Reformbill das Ballot, die geheime Abstimmung, zur
Sprache kommen. Unserer Ansicht nach ist es eine Täuschung, davon Hilfe
gegen Bestechung und Einschüchterung zu erwarten, welche sich auf beiden
Seiten trotz der neuen Bill gegen beides bei den letzten Wahlen so breit
gemacht haben; es wird nur zu mehr Heuchelei und zur Unterdrückung der
freien Discussion führen. Indeß, wie auch die Entscheidung darüber aus¬
fallen mag, für politische Machtfragen herrscht in den unteren Schichten der
Gesellschaft geringes Interesse, man kann sie in ihrer Tiefe nur aufrühren
durch religiöse, nationale oder ökonomische Fragen. Kirchliche Fragen von
Belang können die Radicalen augenblicklich nicht anbringen; was die irische
Kirche betrifft, so hat sie unter den arbeitenden Classen wahrscheinlich eben¬
soviel Anhänger als Gegner, das no popvi^ findet im ungebildetsten Theile
des Volkes noch am meisten Anklang. Auch die einzige nationale Frage
die sie angeregt: „Gerechtigkeit für Irland", hat keine Sympathie unter den
Arbeitern, welche vielmehr die Jrländer hassen, weil dieselben geringeren
Lohn nehmen und ihnen den Markt verderben. Aber um so empfänglicher
werden sie für ökonomische Fragen sein und daß die Radicalen damit um¬
gehen, diese aufs Tapet zu bringen, läßt sich schon aus den neuesten Reden
von Bright schließen; a, trss dreal:kg.se tadle ist der Ruf den er erhebt: die
Zölle auf Thee, Kaffee und Zucker sollen abgeschafft werden. nationalöko-
nomisch kann es nichts Verkehrteres geben, als diese Loosung; die englische
Steuergesetzgebung ist nach den großen Reformen Peel's und Gladstone's
musterhaft, alle nothwendigen Bedürfnisse, wie Fleisch, Getreide, Milch,
Kleidungsstücke u. f. w. sind vollkommen frei; England kennt weder Schlacht-
noch Mahlsteuer, noch Belastung der Rohstoffe. Das Budget wird haupt¬
sächlich aufgebracht einmal durch die Zölle auf Thee, Kaffee, Zucker, Tabak,
Wein und einige weniger bedeutende Artikel, sodann durch die Bier- und
Spirituosensteuer (exeisch, zusammen 43 Will. Pfd. Sterl., die einzige große
directe Staatssteuer; die income ox gibt daneben nur 6 Mill. Die indirecten
Steuern sind keineswegs drückend; sie belasten Artikel, welche stets consumirt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/443>, abgerufen am 11.02.2025.