Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.überfüllt. In Polen und Litthauen wird die Einführung der russischen 50*
überfüllt. In Polen und Litthauen wird die Einführung der russischen 50*
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0423" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287695"/> <p xml:id="ID_1061" prev="#ID_1060" next="#ID_1062"> überfüllt. In Polen und Litthauen wird die Einführung der russischen<lb/> Sprache in die katholischen Kirchen mit unbeugsamer Strenge durchgeführt;<lb/> künftig soll von jedem katholischen Priester, der das geistliche Seminar verläßt<lb/> um in eine praktische Thätigkeit zu treten, der Nachweis genügender russischer<lb/> Sprachkenntniß gefordert werden. Ebenso wird die ausschließliche Herrschaft<lb/> der russischen Sprache in der Administration des Königreichs Polen („Weichsel¬<lb/> land") zur Geltung gebracht. Dreihundert Städtchen Polens sind zu Dör¬<lb/> fern degradirt worden, um die Kosten städtischer Verwaltung zu sparen und<lb/> die Zahl der mit russischen Beamten zu besetzenden Stellen zu mindern; im<lb/> wilnaer General-Gouvernement haben zahlreiche Städte ihre polnischen Na¬<lb/> men gegen die russischen Bezeichnungen aufgeben müssen, welche vor der<lb/> »Polnischen Invasion dieses altrussischen Landes" d. h. vor vierhundert<lb/> Jahren üblich waren. In den drei Ostseeprovinzen (die jetzt sämmtlich unter nicht-<lb/> deutschen Gouverneuren stehen) haben die Amtsblätter zunächst ihre deutschen<lb/> Titel mit russischen vertauscht; in Dorpat ist dem deutschen Curaten ein rus¬<lb/> sischer Gehilfe beigegeben worden, um die Ausbreitung des russischen Sprach¬<lb/> unterrichts in den Schulen des baltischen Lehrbezirks zu überwachen. Gleichzei¬<lb/> tig ist die russische Nationalpartei eifrig bemüht die Letten und Esthen in<lb/> ein Bündniß gegen das herrschende deutsche Element zu ziehen: der von<lb/> lutherischen Predigern vor dreißig Jahren gegründeten keltisch-literarischen Ge¬<lb/> sellschaft zu Riga und Mitau ist ein Coneurrenzverein entgegengestellt worden<lb/> — von Wilna her werden mit russischen Lettern gedruckte lettische Bücher nach<lb/> Liv- und Kurland importirt und ein keltischer Convertit hat ein lettisch¬<lb/> russisches Lesebuch herausgegeben, das den Zweck hat. die beiden slavischen<lb/> Brudervölker einander zu nähern und die Sprache der Urbewohner Livlands<lb/> von dem Joch deutschen Einflusses zu befreien. Daß die unermüdlichen Auf-<lb/> reizungen der moskauer Presse auch an maßgebender Stelle ihren Zweck zu<lb/> erreichen beginnen, wird immer bemerkbarer: wie von den verschiedensten<lb/> Seiten mit beispielloser Uebereinstimmung behauptet wird, hat ein deutscher<lb/> Diplomat diesen Versuchen zur Verdächtigung des baltisch-deutschen Elementes<lb/> und dessen angeblicher Sympathien für Preußen seine Unterstützung geliehen.<lb/> — In Petersburg ist man vornehmlich mit zwei Dingen beschäftigt gewesen:<lb/> mit den sich von allen Seiten, selbst von Sibirien herandrängenden Gesuchen<lb/> um Eisenbahneoncessionen und mit der Umgestaltung der officiellen Presse.<lb/> Vom 1. Januar 1869 ab sollen die Organe sämmtlicher Ministerien eingehen<lb/> um einem Regierungsorgane Platz zu machen. Diese Maßregel ist wichtiger,<lb/> als man auf den ersten Blick glauben möchte, denn sie verhindert die einzel¬<lb/> nen Minister, durch ihre Journale an dem heftigen publictstischen Parteikampf,<lb/> der in Moskau und Petersburg geführt wird, Theil zu nehmen. Besonders<lb/> empfindlich sieht sich die nationale Demokratie verletzt, welche an dem Kriegs¬<lb/> minister Miljutin und dessen Leiborgan, dem „Invaliden", einflußreiche Gön¬<lb/> ner sah, deren Beistand schmerzlich vermißt werden wird. Die gesammte<lb/> Maßregel scheint einen lebhaften Kampf widerzuspiegeln, der im Schooß der<lb/> Negierung ausgekämpft wird und die Stellung des demokratischen Kriegs¬<lb/> ministers in Frage gestellt hat. Das militärische System dieses Armeerefor¬<lb/> mators ist gleichzeitig von dem Vorkämpfer der aristokratisch-constitutionellen<lb/> Partei, der Zeitschrift „Wesstj" in leidenschaftlicher Weise angegriffen worden<lb/> die gesammte poker- und deutschenseindliche Demokratie wie ein Mann<lb/> für ihren bedrohten Führer eingetreten. Daß dieser Kampf zu einer Ver-<lb/> Änderung des herrschenden Systems führen werde, scheint von den Kämpfern<lb/> nicht geglaubt zu werden; wohl aber dürfte es sich darum handeln, ob neben<lb/> den demokratisch-nationalen Einflüssen noch andere an maßgebender Stelle</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 50*</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0423]
überfüllt. In Polen und Litthauen wird die Einführung der russischen
Sprache in die katholischen Kirchen mit unbeugsamer Strenge durchgeführt;
künftig soll von jedem katholischen Priester, der das geistliche Seminar verläßt
um in eine praktische Thätigkeit zu treten, der Nachweis genügender russischer
Sprachkenntniß gefordert werden. Ebenso wird die ausschließliche Herrschaft
der russischen Sprache in der Administration des Königreichs Polen („Weichsel¬
land") zur Geltung gebracht. Dreihundert Städtchen Polens sind zu Dör¬
fern degradirt worden, um die Kosten städtischer Verwaltung zu sparen und
die Zahl der mit russischen Beamten zu besetzenden Stellen zu mindern; im
wilnaer General-Gouvernement haben zahlreiche Städte ihre polnischen Na¬
men gegen die russischen Bezeichnungen aufgeben müssen, welche vor der
»Polnischen Invasion dieses altrussischen Landes" d. h. vor vierhundert
Jahren üblich waren. In den drei Ostseeprovinzen (die jetzt sämmtlich unter nicht-
deutschen Gouverneuren stehen) haben die Amtsblätter zunächst ihre deutschen
Titel mit russischen vertauscht; in Dorpat ist dem deutschen Curaten ein rus¬
sischer Gehilfe beigegeben worden, um die Ausbreitung des russischen Sprach¬
unterrichts in den Schulen des baltischen Lehrbezirks zu überwachen. Gleichzei¬
tig ist die russische Nationalpartei eifrig bemüht die Letten und Esthen in
ein Bündniß gegen das herrschende deutsche Element zu ziehen: der von
lutherischen Predigern vor dreißig Jahren gegründeten keltisch-literarischen Ge¬
sellschaft zu Riga und Mitau ist ein Coneurrenzverein entgegengestellt worden
— von Wilna her werden mit russischen Lettern gedruckte lettische Bücher nach
Liv- und Kurland importirt und ein keltischer Convertit hat ein lettisch¬
russisches Lesebuch herausgegeben, das den Zweck hat. die beiden slavischen
Brudervölker einander zu nähern und die Sprache der Urbewohner Livlands
von dem Joch deutschen Einflusses zu befreien. Daß die unermüdlichen Auf-
reizungen der moskauer Presse auch an maßgebender Stelle ihren Zweck zu
erreichen beginnen, wird immer bemerkbarer: wie von den verschiedensten
Seiten mit beispielloser Uebereinstimmung behauptet wird, hat ein deutscher
Diplomat diesen Versuchen zur Verdächtigung des baltisch-deutschen Elementes
und dessen angeblicher Sympathien für Preußen seine Unterstützung geliehen.
— In Petersburg ist man vornehmlich mit zwei Dingen beschäftigt gewesen:
mit den sich von allen Seiten, selbst von Sibirien herandrängenden Gesuchen
um Eisenbahneoncessionen und mit der Umgestaltung der officiellen Presse.
Vom 1. Januar 1869 ab sollen die Organe sämmtlicher Ministerien eingehen
um einem Regierungsorgane Platz zu machen. Diese Maßregel ist wichtiger,
als man auf den ersten Blick glauben möchte, denn sie verhindert die einzel¬
nen Minister, durch ihre Journale an dem heftigen publictstischen Parteikampf,
der in Moskau und Petersburg geführt wird, Theil zu nehmen. Besonders
empfindlich sieht sich die nationale Demokratie verletzt, welche an dem Kriegs¬
minister Miljutin und dessen Leiborgan, dem „Invaliden", einflußreiche Gön¬
ner sah, deren Beistand schmerzlich vermißt werden wird. Die gesammte
Maßregel scheint einen lebhaften Kampf widerzuspiegeln, der im Schooß der
Negierung ausgekämpft wird und die Stellung des demokratischen Kriegs¬
ministers in Frage gestellt hat. Das militärische System dieses Armeerefor¬
mators ist gleichzeitig von dem Vorkämpfer der aristokratisch-constitutionellen
Partei, der Zeitschrift „Wesstj" in leidenschaftlicher Weise angegriffen worden
die gesammte poker- und deutschenseindliche Demokratie wie ein Mann
für ihren bedrohten Führer eingetreten. Daß dieser Kampf zu einer Ver-
Änderung des herrschenden Systems führen werde, scheint von den Kämpfern
nicht geglaubt zu werden; wohl aber dürfte es sich darum handeln, ob neben
den demokratisch-nationalen Einflüssen noch andere an maßgebender Stelle
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