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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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Beispiel W. Pitt's 1783; aber dieser wußte rasch seine Minorität in eine ent¬
scheidende Majorität zu verwandeln, Disraeli versuchte 1859 vergeblich dasselbe,
1867 dagegen kam er durch die Adullamiten ins Amt und hielt sich durch
die Radicalen. Indem er verlangte, daß die Frage der parlamentarischen
Reform nicht mehr als Parteifrage behandelt, sondern vom Hause selbst
in die Hand genommen werde, stellte er das ganze parlamentarische System
auf den Kopf. Wenn ein Minister sich einfach vom Hause vorschreiben
zu lassen hat, was er thun soll, dann wird der Cabinetwechsel nach einer
Niederlage ein veralteter Aberglaube, man kehrt seinen Rock um und regiert
weiter. Damit aber fällt auch die ministerielle Verantwortlichkeit und that¬
sächlich jede Verantwortlichkeit, denn eine solche hört auf für jede große
souveräne Versammlung.

Wenn das Unterhaus blos aus 650 Personen bestände, die weiter keine
Beziehungen zu einander hätten, als daß sie alle zu Volksvertretern gewählt
wären, so wäre jede geschäftliche Verhandlung größern Stiles einfach un¬
möglich; sie wird möglich erst dadurch, daß das Parlament ein organisirter
Körper ist, eine Gliederung von Parteien, die auf bestimmten Grundsätzen
ruhen: diese Parteien messen sich mit einander nach bestimmten Regeln der
Taktik und die Entscheidungen des stärksten Theiles werden zu Entscheidungen
des Hauses und damit des Landes. Nichts ist also nothwendiger für die
parlamentarische Regierung als eine feste Majorität, die im Allgemeinen
weiß was sie will und sich dann von einem erprobten Führer legten läßt;
ohne das hört jede klare Vorausbestimmung auf, eine führerlose Versamm¬
lung weiß nie was sie will noch wohin sie steuert und wird daher, wie die
Geschichte aller Revolutionen zeigt, immer zu extremen Maßregeln geneigt sein.
Es war bisher Englands Ruhm, im Gegensatz zu den übelgelungenen Copien
seiner Verfassung auf dem Continent, große regierungsfähige Parteien zu
haben. Und diesen Grundpfeiler der ganzen Regierungsmaschine schlägt
Disraeli kaltblütig vor wegzunehmen, nur um sich unter den ärgsten De¬
müthigungen einige Zeit im Amt zu haltenl

Sehen wir jetzt auf das Resultat. Es ist zunächst das, daß trotz aller
Abänderungen die Bill wahrscheinlich kein Jahr so bleiben wird wie sie Ge¬
setz geworden ist. Die Abschaffung des LomxoulnZmg wird als rein uner¬
träglich gefühlt, von den Haushaltern in England unter 10 Pfd. Sterl. ge¬
hören 2/" oder Vz Million zu den Lywxouväers die ihre Gemeindeabgaben
in der Miethe bezahlen, über 10 Pfd. Sterl. aber nur 2/9, daher die große
Rolle, welche die Classe in dem ganzen Kampf spielte: je nach ihrer Stellung
wurde die Bill sehr eng oder sehr weit. Die von Gladstone vorhergesagte
Folge ist eingetroffen, durch Abschaffung der Erlaubniß den Betrag der
Abgabe von der Miethe abzuziehen, sind fast alle Miethen der kleinen


Beispiel W. Pitt's 1783; aber dieser wußte rasch seine Minorität in eine ent¬
scheidende Majorität zu verwandeln, Disraeli versuchte 1859 vergeblich dasselbe,
1867 dagegen kam er durch die Adullamiten ins Amt und hielt sich durch
die Radicalen. Indem er verlangte, daß die Frage der parlamentarischen
Reform nicht mehr als Parteifrage behandelt, sondern vom Hause selbst
in die Hand genommen werde, stellte er das ganze parlamentarische System
auf den Kopf. Wenn ein Minister sich einfach vom Hause vorschreiben
zu lassen hat, was er thun soll, dann wird der Cabinetwechsel nach einer
Niederlage ein veralteter Aberglaube, man kehrt seinen Rock um und regiert
weiter. Damit aber fällt auch die ministerielle Verantwortlichkeit und that¬
sächlich jede Verantwortlichkeit, denn eine solche hört auf für jede große
souveräne Versammlung.

Wenn das Unterhaus blos aus 650 Personen bestände, die weiter keine
Beziehungen zu einander hätten, als daß sie alle zu Volksvertretern gewählt
wären, so wäre jede geschäftliche Verhandlung größern Stiles einfach un¬
möglich; sie wird möglich erst dadurch, daß das Parlament ein organisirter
Körper ist, eine Gliederung von Parteien, die auf bestimmten Grundsätzen
ruhen: diese Parteien messen sich mit einander nach bestimmten Regeln der
Taktik und die Entscheidungen des stärksten Theiles werden zu Entscheidungen
des Hauses und damit des Landes. Nichts ist also nothwendiger für die
parlamentarische Regierung als eine feste Majorität, die im Allgemeinen
weiß was sie will und sich dann von einem erprobten Führer legten läßt;
ohne das hört jede klare Vorausbestimmung auf, eine führerlose Versamm¬
lung weiß nie was sie will noch wohin sie steuert und wird daher, wie die
Geschichte aller Revolutionen zeigt, immer zu extremen Maßregeln geneigt sein.
Es war bisher Englands Ruhm, im Gegensatz zu den übelgelungenen Copien
seiner Verfassung auf dem Continent, große regierungsfähige Parteien zu
haben. Und diesen Grundpfeiler der ganzen Regierungsmaschine schlägt
Disraeli kaltblütig vor wegzunehmen, nur um sich unter den ärgsten De¬
müthigungen einige Zeit im Amt zu haltenl

Sehen wir jetzt auf das Resultat. Es ist zunächst das, daß trotz aller
Abänderungen die Bill wahrscheinlich kein Jahr so bleiben wird wie sie Ge¬
setz geworden ist. Die Abschaffung des LomxoulnZmg wird als rein uner¬
träglich gefühlt, von den Haushaltern in England unter 10 Pfd. Sterl. ge¬
hören 2/« oder Vz Million zu den Lywxouväers die ihre Gemeindeabgaben
in der Miethe bezahlen, über 10 Pfd. Sterl. aber nur 2/9, daher die große
Rolle, welche die Classe in dem ganzen Kampf spielte: je nach ihrer Stellung
wurde die Bill sehr eng oder sehr weit. Die von Gladstone vorhergesagte
Folge ist eingetroffen, durch Abschaffung der Erlaubniß den Betrag der
Abgabe von der Miethe abzuziehen, sind fast alle Miethen der kleinen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/358>, abgerufen am 06.02.2025.