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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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der vollendetste Ausdruck des Gedankens der am Verbrecher zu vollziehen¬
den, fortschreitenden Erziehung zur Freiheit anzusehen, daß die vorgeschlagenen
Abweichungen immer nur geringfügiger, meistens localen Verhältnissen ent¬
nommener Natur sind und daß im Wesentlichen Progressiv- und irisches
System als synonyme Bezeichnungen gelten können.

Als einer der neuesten Zeugen für das letztere ist namhaft zu machen
der Oberappellations-Gerichtsrath Frhr. v. Groß in Weimar, der 1865 --
dem Beispiel des Prof. v. Holtzendorff folgend -- die englischen und irländi¬
schen Gefängnißeinrichtungen an Ort und Stelle studirte und später einer
Commission für Gefängnißwesen in Weimar prästdirte, deren Thätigkeit leider
durch die Zeitereignisse eine dauernde Unterbrechung erfahren hat. Herr
v. Groß veröffentlichte seine Ersahrungen und Vorschläge in den "Blättern
für Gefängnißkunde" unter dem Titel "die Uebertragbarkeit des irländischen
Gefängnißsystems auf deutsche Verhältnisse." Neuerdings ist auch eine in
Jena im vorigen Jahr von derselben Autorität gehaltene Vorlesung, "eine
Wanderung durch irländische Gefängnisse", in der bekannten Sammlung ge¬
meinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge (Heft 60) zum Abdruck gelangt.
Zur allgemeinen Kenntnißnahme des Gegenstandes, um den es sich hier
handelt, ist besonders diese einfach, anschaulich und übersichtlich abgefaßte
Schrift dem größeren Publicum zu empfehlen. Der Verfasser legt den Werth
des complicirten und doch so bewunderswerth einheitlichen Mechanismus
des irischen Strafhaftsystems in überzeugender Weise dar, er zeigt, "daß
dasselbe das Streben und die Selbstbeherrschung des Gefangenen aufs höchste
anspornt und ihn stufenweise aus schweren in bessere Tage -- der Freiheit
entgegen führt und dadurch zur Freiheit erzieht", und schließt seine Abhand¬
lung mit dem Ausdruck seiner Ueberzeugung, "daß der Grundgedanke des
irischen Gesängnißsystems, nämlich der, den einzelnen Verbrecher in einer Reihe
von Abstufungen zu dem höchsten Endziel, zum vernünftigen Gebrauch seiner
Freiheit hinzuleiten, eine große anthropologische und psychologische Wahrheit
ist, deren Verwerthung für ihre Gefängnißeinrichtungen auch anderen Natio¬
nen als der irländischen nur dringend anempfohlen werden kann."

Es liegt in diesen Worten eine ernste, nicht zum ersten Mal ausgesprochene
Mahnung, eine Mahnung, die wiederholt von Männern der Wissenschaft
wie von Praktikern an Alle, die zu der Entwickelung des Gefängnißwesens
beizutragen im Stande sind, gerichtet worden und die leider, vor Allem in
Preußen, fast vollkommen unberücksichtigt geblieben ist. Wir beabsichtigten
nicht, die preußische Regierung dafür ausschließlich verantwortlich zu machen.
Allerdings scheint es uns ein berechtigtes Verlangen, daß dieselbe längsteine
Commission von Sachverständigen zur Untersuchung der Gefängnißeinrichtungen
nach Irland hätte schicken sollen, und in den gelegentlichen Versicherungen


der vollendetste Ausdruck des Gedankens der am Verbrecher zu vollziehen¬
den, fortschreitenden Erziehung zur Freiheit anzusehen, daß die vorgeschlagenen
Abweichungen immer nur geringfügiger, meistens localen Verhältnissen ent¬
nommener Natur sind und daß im Wesentlichen Progressiv- und irisches
System als synonyme Bezeichnungen gelten können.

Als einer der neuesten Zeugen für das letztere ist namhaft zu machen
der Oberappellations-Gerichtsrath Frhr. v. Groß in Weimar, der 1865 —
dem Beispiel des Prof. v. Holtzendorff folgend — die englischen und irländi¬
schen Gefängnißeinrichtungen an Ort und Stelle studirte und später einer
Commission für Gefängnißwesen in Weimar prästdirte, deren Thätigkeit leider
durch die Zeitereignisse eine dauernde Unterbrechung erfahren hat. Herr
v. Groß veröffentlichte seine Ersahrungen und Vorschläge in den „Blättern
für Gefängnißkunde" unter dem Titel „die Uebertragbarkeit des irländischen
Gefängnißsystems auf deutsche Verhältnisse." Neuerdings ist auch eine in
Jena im vorigen Jahr von derselben Autorität gehaltene Vorlesung, „eine
Wanderung durch irländische Gefängnisse", in der bekannten Sammlung ge¬
meinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge (Heft 60) zum Abdruck gelangt.
Zur allgemeinen Kenntnißnahme des Gegenstandes, um den es sich hier
handelt, ist besonders diese einfach, anschaulich und übersichtlich abgefaßte
Schrift dem größeren Publicum zu empfehlen. Der Verfasser legt den Werth
des complicirten und doch so bewunderswerth einheitlichen Mechanismus
des irischen Strafhaftsystems in überzeugender Weise dar, er zeigt, „daß
dasselbe das Streben und die Selbstbeherrschung des Gefangenen aufs höchste
anspornt und ihn stufenweise aus schweren in bessere Tage — der Freiheit
entgegen führt und dadurch zur Freiheit erzieht", und schließt seine Abhand¬
lung mit dem Ausdruck seiner Ueberzeugung, „daß der Grundgedanke des
irischen Gesängnißsystems, nämlich der, den einzelnen Verbrecher in einer Reihe
von Abstufungen zu dem höchsten Endziel, zum vernünftigen Gebrauch seiner
Freiheit hinzuleiten, eine große anthropologische und psychologische Wahrheit
ist, deren Verwerthung für ihre Gefängnißeinrichtungen auch anderen Natio¬
nen als der irländischen nur dringend anempfohlen werden kann."

Es liegt in diesen Worten eine ernste, nicht zum ersten Mal ausgesprochene
Mahnung, eine Mahnung, die wiederholt von Männern der Wissenschaft
wie von Praktikern an Alle, die zu der Entwickelung des Gefängnißwesens
beizutragen im Stande sind, gerichtet worden und die leider, vor Allem in
Preußen, fast vollkommen unberücksichtigt geblieben ist. Wir beabsichtigten
nicht, die preußische Regierung dafür ausschließlich verantwortlich zu machen.
Allerdings scheint es uns ein berechtigtes Verlangen, daß dieselbe längsteine
Commission von Sachverständigen zur Untersuchung der Gefängnißeinrichtungen
nach Irland hätte schicken sollen, und in den gelegentlichen Versicherungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/319>, abgerufen am 06.02.2025.