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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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Allen umzugehen verstand und sich nie Feinde machte. Obgleich er sein
ganzes Leben in entfernten Garnisonen zugebracht hatte, so machte sich doch
sofort geltend, daß er in der Jugend eine gute Bildung empfangen hatte.
Er war Zögling der Jesuitenschule von Polozk gewesen, konnte Lateinisch und
drückte sich im Französischen und Deutschen geläufig aus. Dabei war er ein
edler Mensch und vollkommner Gentleman. -- Der Greis erkundigte sich mit
Theilnahme, wie wir die weite Reise zurückgelegt hätten und ob wir nicht
der Hilfe eines Arztes bedürften? Er fügte hinzu, daß er gern zur Erleich'
terung unseres Schicksals beitragen werde. Darauf bat ich ihn um die Er¬
laubniß, meiner Frau schreiben zu dürfen: diese Bitte mußte er mir ab¬
schlagen, weil uns das Schreiben ausdrücklich streng verboten war.

Zwei Tage nach uns langte die folgende Reihe unserer Gefährten aus
Petersburg an: V. N. Licharew, v. Tiesenhausen, S. T. Kriwzow und Tol-
stoy. Zwei Tage darauf kamen Ljublensky. Wigadowsky, Lisowsky und
N. A. Sagoretzky an; diesen folgten noch von der Brügger, A. V. Jentalzow.
A. I. Ticherkasow und I. A. Abramow II. Wir hatten es enge, aber ge¬
sellig; unsere schweren Ketten erlaubten uns nicht, viel zu gehen, aber wir
gewöhnten uns an dieselben und lernten sie mit Riemen aufzubinden und
am Gurt oder der Halsbinde zu befestigen. Zwischen unserem Häuschen
und dem hohen Pfahlzaun war ein Raum von zwei Faden Breite; um dieses
Viereck bewegten wir uns mehrere Mal täglich. -- Im April wurden die Tage
wärmer. Ende Mai begann die Erde aufzuthauen, sodaß wir mit unserer
Arbeit beginnen konnten. Eines Morgens führte man uns auf einen freien
Platz, wo wir unseren Kameraden aus dem anderen Gefängnisse begegneten.
Das Wiedersehen war ein höchst erfreuliches und wiederholte sich zwei Mal
täglich. Morgens von 8 bis 12. Nachmittags von 2 bis 3 Uhr. Dann
begann unsere regelmäßige Beschäftigung. Man hatte eine Menge Spaten,
Hämmer. Grabschaufeln. Karren und Tragbahren zusammengebracht; unsere
erste Arbeit bestand in dem Ausgraben zum Fundament unseres neuen Ge¬
fängnißgebäudes und des Grabens um dasselbe. Diese Arbeit erinnerte uns
daran, daß einst die Schweizer gezwungen worden waren, für sich selbst die
Festung Zwing-Uri zu bauen, und das traurige Gebäude, das wir aufführen
sollten, hieß fortan "Zwing-Uri". Jeden Tag. die Sonn- und Feiertage aus¬
genommen, trat der wachehaltende Unterofficier früh Morgens zu uns herein
"ut rief: "Meine Herren, an die Arbeit!" -- Gewöhnlich rückten wir mit Ge¬
sang aus, um dann nach Kräften zu arbeiten; Zwang wurde uns dabei nicht
^gethan. Das hatten wir unserem Commandanten zu verdanken, der in seiner
Instruction zwar die Vorschrift erhalten hatte, uns schonungslos zu Arbei¬
tn zu gebrauchen, es durch Vorstellungen aber dahin zu bringen wußte,
daß das Maß unserer Arbeit von seinem Gutdünken abhing.




Allen umzugehen verstand und sich nie Feinde machte. Obgleich er sein
ganzes Leben in entfernten Garnisonen zugebracht hatte, so machte sich doch
sofort geltend, daß er in der Jugend eine gute Bildung empfangen hatte.
Er war Zögling der Jesuitenschule von Polozk gewesen, konnte Lateinisch und
drückte sich im Französischen und Deutschen geläufig aus. Dabei war er ein
edler Mensch und vollkommner Gentleman. — Der Greis erkundigte sich mit
Theilnahme, wie wir die weite Reise zurückgelegt hätten und ob wir nicht
der Hilfe eines Arztes bedürften? Er fügte hinzu, daß er gern zur Erleich'
terung unseres Schicksals beitragen werde. Darauf bat ich ihn um die Er¬
laubniß, meiner Frau schreiben zu dürfen: diese Bitte mußte er mir ab¬
schlagen, weil uns das Schreiben ausdrücklich streng verboten war.

Zwei Tage nach uns langte die folgende Reihe unserer Gefährten aus
Petersburg an: V. N. Licharew, v. Tiesenhausen, S. T. Kriwzow und Tol-
stoy. Zwei Tage darauf kamen Ljublensky. Wigadowsky, Lisowsky und
N. A. Sagoretzky an; diesen folgten noch von der Brügger, A. V. Jentalzow.
A. I. Ticherkasow und I. A. Abramow II. Wir hatten es enge, aber ge¬
sellig; unsere schweren Ketten erlaubten uns nicht, viel zu gehen, aber wir
gewöhnten uns an dieselben und lernten sie mit Riemen aufzubinden und
am Gurt oder der Halsbinde zu befestigen. Zwischen unserem Häuschen
und dem hohen Pfahlzaun war ein Raum von zwei Faden Breite; um dieses
Viereck bewegten wir uns mehrere Mal täglich. — Im April wurden die Tage
wärmer. Ende Mai begann die Erde aufzuthauen, sodaß wir mit unserer
Arbeit beginnen konnten. Eines Morgens führte man uns auf einen freien
Platz, wo wir unseren Kameraden aus dem anderen Gefängnisse begegneten.
Das Wiedersehen war ein höchst erfreuliches und wiederholte sich zwei Mal
täglich. Morgens von 8 bis 12. Nachmittags von 2 bis 3 Uhr. Dann
begann unsere regelmäßige Beschäftigung. Man hatte eine Menge Spaten,
Hämmer. Grabschaufeln. Karren und Tragbahren zusammengebracht; unsere
erste Arbeit bestand in dem Ausgraben zum Fundament unseres neuen Ge¬
fängnißgebäudes und des Grabens um dasselbe. Diese Arbeit erinnerte uns
daran, daß einst die Schweizer gezwungen worden waren, für sich selbst die
Festung Zwing-Uri zu bauen, und das traurige Gebäude, das wir aufführen
sollten, hieß fortan „Zwing-Uri". Jeden Tag. die Sonn- und Feiertage aus¬
genommen, trat der wachehaltende Unterofficier früh Morgens zu uns herein
"ut rief: „Meine Herren, an die Arbeit!" — Gewöhnlich rückten wir mit Ge¬
sang aus, um dann nach Kräften zu arbeiten; Zwang wurde uns dabei nicht
^gethan. Das hatten wir unserem Commandanten zu verdanken, der in seiner
Instruction zwar die Vorschrift erhalten hatte, uns schonungslos zu Arbei¬
tn zu gebrauchen, es durch Vorstellungen aber dahin zu bringen wußte,
daß das Maß unserer Arbeit von seinem Gutdünken abhing.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/285>, abgerufen am 05.02.2025.