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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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einen Rasttag, den wir in einem schlechten Gefängniß zubringen mußten. Hier
trennten wir uns von unserem zweiten Begleiter und erhielten einen neuen
in der Person eines Kosakenunteroffiziers. Zwei Poststationen jenseit Jrkutsk
fuhren wir über den Baikalsee, hier das heilige Meer genannt; die Pferde
liefen über sechzig Werst weit ohne anzuhalten; die Fuhrleute hatten in ihren
Schlitten einige Bretter mitgenommen, um über die breiten Eisspalten des
Sees Nothbrücken zuschlagen. Ueber diese Spalten, die oft mehrere Ellen breit
waren, sprangen die Pferde mit einer solchen Geschwindigkeit weg, daß der lange
Schlitten kaum das Wasser berührte; überhaupt sind die sibirischen Pferde un¬
gewöhnlich ausdauernd und rasch, obgleich klein und unansehnlich; ohne An¬
strengung laufen sie 80 Werst in einem Strich. -- Das jenseitige Ufer des
Baikal erreichten wir beim Kloster Podolsky. Die schöne Umgegend dieses
Ortes, den ich später kennen lernte, war jetzt mit einer Schneedecke belegt,
deren Einförmigkeit nur hier und da durch Dörfer, Berge und Wälder unter¬
brochen wurde. Einige Stationen diesseit Tschita sahen wir zum ersten Mol
die Jurten (Filzzelre) herumziehender Burjäten. Auf der letzten Station vor
Tschita in Klutschewoy spannte man uns Postwagen vor, weil um Tschita
herum das ganze Jahr hindurch der Schnee nicht liegen bleibt. Dieser Ort
ist sehr hoch gelegen und sieht beständig einen klaren, unbewölkter
Himmel über sich; wenn auch bisweilen Schnee fällt, so wird er sofort durch
den Wind wieder in die Thäler geweht. In gewissem Sinne läßt sich sagen,
daß Tschita zu kalt für den Schnee sei; die Kälte stieg bis zu 40 Grad Reau-
mur, sodaß das Quecksilber im Thermometer zufror und nur noch ein Spiri¬
tus-Thermometer den Grad der Kälte angeben konnte. -- Kurz vor diesem Ort
unserer Bestimmung hatten wir noch ein Abenteuer zu bestehen. Am 29.
März fuhr ich mit Glebow in einem verdeckten Postwagen die letzte Station
unserer weiten Reise nach Tschita; der Fuhrmann war ein heidnischer Bur¬
jate, der die Geschirre nur nachlässig aus Stricken zusammengebunden hatte.
Nachdem wir 10 Werst gefahren waren, befanden wir uns auf einem hohen
Berg, von welchem aus das kleine Dorf Tschita sichtbar wurde. Wir fuh¬
ren langsam und behutsam die Anhöhe hinab; plötzlich aber rissen die Stricke
des Geschirrs, gleichzeitig brach der hölzerne Nagel, der die Vorderräder mit
dem Wagen verband -- in einem Augenblicke waren wir herausgeschleudert.
Glebow fiel über das rechte Seitenpferd auf den Weg, der Fuhrmann warf
sich seitwärts, ich blieb mit dem rechten Fuße an den Strängen des einen
Seitenpferdes hängen, mich mit beiden Händen an der Mähne des Mittel-
Pferdes festhaltend. Die Pferde jagten zwei Werst weit unaufhaltsam in ge¬
streckter Carriere vorwärts, nur die Vorderachse des zerbrochenen Wagens
mit sich führend, zwischen ihnen hielt ich mich mit meinen schweren Ketten
nur mühsam fest, bis Repin und Küchelbecker, die vor uns am Fuße des Berges


einen Rasttag, den wir in einem schlechten Gefängniß zubringen mußten. Hier
trennten wir uns von unserem zweiten Begleiter und erhielten einen neuen
in der Person eines Kosakenunteroffiziers. Zwei Poststationen jenseit Jrkutsk
fuhren wir über den Baikalsee, hier das heilige Meer genannt; die Pferde
liefen über sechzig Werst weit ohne anzuhalten; die Fuhrleute hatten in ihren
Schlitten einige Bretter mitgenommen, um über die breiten Eisspalten des
Sees Nothbrücken zuschlagen. Ueber diese Spalten, die oft mehrere Ellen breit
waren, sprangen die Pferde mit einer solchen Geschwindigkeit weg, daß der lange
Schlitten kaum das Wasser berührte; überhaupt sind die sibirischen Pferde un¬
gewöhnlich ausdauernd und rasch, obgleich klein und unansehnlich; ohne An¬
strengung laufen sie 80 Werst in einem Strich. — Das jenseitige Ufer des
Baikal erreichten wir beim Kloster Podolsky. Die schöne Umgegend dieses
Ortes, den ich später kennen lernte, war jetzt mit einer Schneedecke belegt,
deren Einförmigkeit nur hier und da durch Dörfer, Berge und Wälder unter¬
brochen wurde. Einige Stationen diesseit Tschita sahen wir zum ersten Mol
die Jurten (Filzzelre) herumziehender Burjäten. Auf der letzten Station vor
Tschita in Klutschewoy spannte man uns Postwagen vor, weil um Tschita
herum das ganze Jahr hindurch der Schnee nicht liegen bleibt. Dieser Ort
ist sehr hoch gelegen und sieht beständig einen klaren, unbewölkter
Himmel über sich; wenn auch bisweilen Schnee fällt, so wird er sofort durch
den Wind wieder in die Thäler geweht. In gewissem Sinne läßt sich sagen,
daß Tschita zu kalt für den Schnee sei; die Kälte stieg bis zu 40 Grad Reau-
mur, sodaß das Quecksilber im Thermometer zufror und nur noch ein Spiri¬
tus-Thermometer den Grad der Kälte angeben konnte. — Kurz vor diesem Ort
unserer Bestimmung hatten wir noch ein Abenteuer zu bestehen. Am 29.
März fuhr ich mit Glebow in einem verdeckten Postwagen die letzte Station
unserer weiten Reise nach Tschita; der Fuhrmann war ein heidnischer Bur¬
jate, der die Geschirre nur nachlässig aus Stricken zusammengebunden hatte.
Nachdem wir 10 Werst gefahren waren, befanden wir uns auf einem hohen
Berg, von welchem aus das kleine Dorf Tschita sichtbar wurde. Wir fuh¬
ren langsam und behutsam die Anhöhe hinab; plötzlich aber rissen die Stricke
des Geschirrs, gleichzeitig brach der hölzerne Nagel, der die Vorderräder mit
dem Wagen verband — in einem Augenblicke waren wir herausgeschleudert.
Glebow fiel über das rechte Seitenpferd auf den Weg, der Fuhrmann warf
sich seitwärts, ich blieb mit dem rechten Fuße an den Strängen des einen
Seitenpferdes hängen, mich mit beiden Händen an der Mähne des Mittel-
Pferdes festhaltend. Die Pferde jagten zwei Werst weit unaufhaltsam in ge¬
streckter Carriere vorwärts, nur die Vorderachse des zerbrochenen Wagens
mit sich führend, zwischen ihnen hielt ich mich mit meinen schweren Ketten
nur mühsam fest, bis Repin und Küchelbecker, die vor uns am Fuße des Berges


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/283>, abgerufen am 06.02.2025.