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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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"Nein, er ist schon mehrere Wochen hier, hat sich aber auch seit gestern Un¬
glück an seine Hände geschrieben."

Diese geschärfte Strafe war N. S. Bobrischtschew-Puschkin, Offizier
vom Generalstabe, zu Theil geworden, von dem die Untersuchungscommission
die Stelle erfahren wollte, wo die von Pestel geschriebene Constitution sich
befinde. Sie war in ein kleines Kästchen gelegt und in die Erde vergraben
worden; die Stelle war nur Puschkin und SaMn bekannt. Letzterer wurde
mit einem Feldjäger an Ort und Stelle geschickt, wo nach langem Suchen und
Scharren im Schnee das Kästchen aufgefunden und unmittelbar in die Hände
des Kaisers überreicht wurde.

"Sind noch mehrere von den Gefangenen in Ketten?" fragte ich weiter.
"Ja, von meinen dreißig Nummern sind zehn damit versorgt."

Dasselbe Verhältniß galt für die Zahl der Gefesselten in den übrigen
Kasematten und Kurtinen. Ein Jüngling, Midshipman der Gardeequi¬
page. Diwow, den die Wächter Kindchen nannten, saß auch in Ketten. Sein
Gemüth ward gereizt, seine Einbildung entflammt, er theilte der Unter¬
suchungscommission Wunderdinge mit, die nur in selner Phantasie existirten.
Diese wurden Gegenstand der Untersuchung und spielten nachher in dem Be¬
richt des Grafen Bljudow eine beträchtliche Rolle. Für solche Aussagen wurde
Diwow nach der Verurtheilung von der Zwangsarbeit befreit und zur
Festungsarbeit nach Bobrowsk geschickt. Einige metner Schicksalsgenossen
ließen sich einreden, daß nur ein ganz offenes Geständniß sie retten könne;
namentlich komme es darauf an, daß sie die Namen Derer nennten, von
denen sie in die geheime Gesellschaft aufgenommen worden. Manche ließen
sich dadurch wirklich zu speciellen Angaben bewegen. So der Obrist Falken¬
berg, welcher angab, Fürst Bariatinsky habe ihn in die Verschwörung ein¬
geweiht; Bariatinsky leugnete diese Thatsache und es kam zur Konfrontation.
Die Aussagen standen sich schroff gegenüber. Bariatinsky machte noch einen
letzten Versuch, seinen Kameraden zu retten, indem er dem General Tscher-
nytschew sagte: "Sie sehen, Excellenz, selbst, wie wunderlich der Herr
Kamerad ist; konnte ich einem solchen Manne wohl ein Geheimniß anver¬
trauen?" -- Ungeachtet dieser grenzenlosen Offenherzigkeit wurde Falkenberg
zur Zwangsarbeit verurtheilt. -- In der Zahl meiner Mitgefangenen befan¬
den sich auch solche, die an Händen und Füßen Ketten trugen und in der
Finsterniß ohne Lampe sitzen mußten; anderen wurde die Nahrung verkürzt.

Den 6. März kam der Platzadjutant nicht, wie er täglich zu thun
pflegte. Sokolow zeigte ein geheimnißvolles Aussehen und war in neuer
Kleidung. Der Wächter Schibojew, Invalide des Leibgarde-Jägerregiments,
der mir täglich Nahrung brachte, war auch in seinem neuen Mantel erschie¬
nen und rasirt. -- "Was ist heute für ein Festtag?" fragte ich. "Es ist


„Nein, er ist schon mehrere Wochen hier, hat sich aber auch seit gestern Un¬
glück an seine Hände geschrieben."

Diese geschärfte Strafe war N. S. Bobrischtschew-Puschkin, Offizier
vom Generalstabe, zu Theil geworden, von dem die Untersuchungscommission
die Stelle erfahren wollte, wo die von Pestel geschriebene Constitution sich
befinde. Sie war in ein kleines Kästchen gelegt und in die Erde vergraben
worden; die Stelle war nur Puschkin und SaMn bekannt. Letzterer wurde
mit einem Feldjäger an Ort und Stelle geschickt, wo nach langem Suchen und
Scharren im Schnee das Kästchen aufgefunden und unmittelbar in die Hände
des Kaisers überreicht wurde.

„Sind noch mehrere von den Gefangenen in Ketten?" fragte ich weiter.
„Ja, von meinen dreißig Nummern sind zehn damit versorgt."

Dasselbe Verhältniß galt für die Zahl der Gefesselten in den übrigen
Kasematten und Kurtinen. Ein Jüngling, Midshipman der Gardeequi¬
page. Diwow, den die Wächter Kindchen nannten, saß auch in Ketten. Sein
Gemüth ward gereizt, seine Einbildung entflammt, er theilte der Unter¬
suchungscommission Wunderdinge mit, die nur in selner Phantasie existirten.
Diese wurden Gegenstand der Untersuchung und spielten nachher in dem Be¬
richt des Grafen Bljudow eine beträchtliche Rolle. Für solche Aussagen wurde
Diwow nach der Verurtheilung von der Zwangsarbeit befreit und zur
Festungsarbeit nach Bobrowsk geschickt. Einige metner Schicksalsgenossen
ließen sich einreden, daß nur ein ganz offenes Geständniß sie retten könne;
namentlich komme es darauf an, daß sie die Namen Derer nennten, von
denen sie in die geheime Gesellschaft aufgenommen worden. Manche ließen
sich dadurch wirklich zu speciellen Angaben bewegen. So der Obrist Falken¬
berg, welcher angab, Fürst Bariatinsky habe ihn in die Verschwörung ein¬
geweiht; Bariatinsky leugnete diese Thatsache und es kam zur Konfrontation.
Die Aussagen standen sich schroff gegenüber. Bariatinsky machte noch einen
letzten Versuch, seinen Kameraden zu retten, indem er dem General Tscher-
nytschew sagte: „Sie sehen, Excellenz, selbst, wie wunderlich der Herr
Kamerad ist; konnte ich einem solchen Manne wohl ein Geheimniß anver¬
trauen?" — Ungeachtet dieser grenzenlosen Offenherzigkeit wurde Falkenberg
zur Zwangsarbeit verurtheilt. — In der Zahl meiner Mitgefangenen befan¬
den sich auch solche, die an Händen und Füßen Ketten trugen und in der
Finsterniß ohne Lampe sitzen mußten; anderen wurde die Nahrung verkürzt.

Den 6. März kam der Platzadjutant nicht, wie er täglich zu thun
pflegte. Sokolow zeigte ein geheimnißvolles Aussehen und war in neuer
Kleidung. Der Wächter Schibojew, Invalide des Leibgarde-Jägerregiments,
der mir täglich Nahrung brachte, war auch in seinem neuen Mantel erschie¬
nen und rasirt. — „Was ist heute für ein Festtag?" fragte ich. „Es ist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/190>, abgerufen am 11.02.2025.