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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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rung eindringen; sie sollten dem Kaiser Gelegenheit bieten, jeden der Ver¬
schwörer einzeln zu sprechen und zu sehen und die Namen der noch nicht be¬
kannten Teilnehmer in Erfahrung zu bringen. Sobald solche Namen ge¬
nannt waren, wurden sogleich Feldjäger, Gensd'armen, Offiziere aller
Waffengattungen entsendet, um die Angeschuldigten zu verhaften. Eines der
merkwürdigsten Verhöre fand mit N. A. Bestushew statt. Dieser hatte
in der Nacht, welche dem 14. December folgte, sich durch die Flucht retten
wollen und den Weg nach Schweden dazu gewählt; er erreichte den Leucht¬
thurm Tolbuchin, wo die wachehaltenden Matrosen ihn als Gehülfen des
Generals Spasowiew, Directors aller Leuchtthürme, kannten. Er wollte dort
einige Stunden ruhen, wurde aber zu seinem Unglück von der Frau eines
Matrosen als Flüchtling erkannt und angezeigt, sodaß man ihn einholte und
den anderen Tag in den Winterpalast brachte. Entkräftet durch Hunger, Er¬
müdung und Kälte wandte er sich an den ihm begegnenden Großfürsten Michael
mit der Bitte, er möge befehlen, daß ihm etwas Nahrung gegeben werde,
sonst werde er kaum im Stande sein, im Verhöre zu antworten. In dem¬
selben Gemache war das Abendessen für die Dujour-Flügeladjutanten auf¬
getragen; der Großfürst hieß Bestushew sich zu Tische setzen und unterhielt
sich während der Mahlzeit mit ihm. Als Bestushew fortgeführt wurde,
sagte der Großfürst zu seinem Adjutanten Bibikow: "Gott sei Dank, daß
ich mit diesem Manne nicht schon vorgestern bekannt war, er hätte mich am
Ende mit hineingezogen." -- Der Kaiser empfing Bestushew milde und
sagte ihm: "Du weißt, ich kann Dir verzeihen, und wenn ich sicher sein
könnte, in Dir künftig einen treuen Diener zu haben, so bin ich bereit, Dir
zu verzeihen." Bestushew antwortete: "Majestät, das ist eben das Unglück,
daß Sie Alles thun können, daß Sie über dem Gesetz stehen; wir wollten
Nichts weiter, als bewirken, daß das Loos Ihrer Unterthanen künftig blos
vom Gesetz abhängig sei, nicht von Ihrer Laune." In demselben Geiste
haben sich auch Andere der Schuldigen vor dem Kaiser gelegentlich des Ver¬
hörs geäußert.

Nach Beendigung meines ersten Verhörs führte man mich wieder in
das Vorzimmer der Hauptwache des Palais hinter die bekannte Scheidewand
zurück. Licht erhielt ich durch die Glasthüre, Wärme durch das obere Ende der
Scheidewand, mithin war es weder hell noch warm, höchstens einige Stunden
lang überhaupt erträglich; ich erwartete jede Minute auf eine andere Hauptwache
oder in die Festung übergeführt zu werden und ergab mich darum mit Geduld
in mein Schicksal. Die Nacht schlief ich auf einem Stuhle, mich mit dem
Arm auf einen Tisch lehnend. Den folgenden Tag vom frühen Morgen an
wurden unaufhörlich neue Arrestanten herein und heraus geführt, Militärs
und Civilisten, Bekannte und Unbekannte. Waren ihrer zuviele auf einmal


rung eindringen; sie sollten dem Kaiser Gelegenheit bieten, jeden der Ver¬
schwörer einzeln zu sprechen und zu sehen und die Namen der noch nicht be¬
kannten Teilnehmer in Erfahrung zu bringen. Sobald solche Namen ge¬
nannt waren, wurden sogleich Feldjäger, Gensd'armen, Offiziere aller
Waffengattungen entsendet, um die Angeschuldigten zu verhaften. Eines der
merkwürdigsten Verhöre fand mit N. A. Bestushew statt. Dieser hatte
in der Nacht, welche dem 14. December folgte, sich durch die Flucht retten
wollen und den Weg nach Schweden dazu gewählt; er erreichte den Leucht¬
thurm Tolbuchin, wo die wachehaltenden Matrosen ihn als Gehülfen des
Generals Spasowiew, Directors aller Leuchtthürme, kannten. Er wollte dort
einige Stunden ruhen, wurde aber zu seinem Unglück von der Frau eines
Matrosen als Flüchtling erkannt und angezeigt, sodaß man ihn einholte und
den anderen Tag in den Winterpalast brachte. Entkräftet durch Hunger, Er¬
müdung und Kälte wandte er sich an den ihm begegnenden Großfürsten Michael
mit der Bitte, er möge befehlen, daß ihm etwas Nahrung gegeben werde,
sonst werde er kaum im Stande sein, im Verhöre zu antworten. In dem¬
selben Gemache war das Abendessen für die Dujour-Flügeladjutanten auf¬
getragen; der Großfürst hieß Bestushew sich zu Tische setzen und unterhielt
sich während der Mahlzeit mit ihm. Als Bestushew fortgeführt wurde,
sagte der Großfürst zu seinem Adjutanten Bibikow: „Gott sei Dank, daß
ich mit diesem Manne nicht schon vorgestern bekannt war, er hätte mich am
Ende mit hineingezogen." — Der Kaiser empfing Bestushew milde und
sagte ihm: „Du weißt, ich kann Dir verzeihen, und wenn ich sicher sein
könnte, in Dir künftig einen treuen Diener zu haben, so bin ich bereit, Dir
zu verzeihen." Bestushew antwortete: „Majestät, das ist eben das Unglück,
daß Sie Alles thun können, daß Sie über dem Gesetz stehen; wir wollten
Nichts weiter, als bewirken, daß das Loos Ihrer Unterthanen künftig blos
vom Gesetz abhängig sei, nicht von Ihrer Laune." In demselben Geiste
haben sich auch Andere der Schuldigen vor dem Kaiser gelegentlich des Ver¬
hörs geäußert.

Nach Beendigung meines ersten Verhörs führte man mich wieder in
das Vorzimmer der Hauptwache des Palais hinter die bekannte Scheidewand
zurück. Licht erhielt ich durch die Glasthüre, Wärme durch das obere Ende der
Scheidewand, mithin war es weder hell noch warm, höchstens einige Stunden
lang überhaupt erträglich; ich erwartete jede Minute auf eine andere Hauptwache
oder in die Festung übergeführt zu werden und ergab mich darum mit Geduld
in mein Schicksal. Die Nacht schlief ich auf einem Stuhle, mich mit dem
Arm auf einen Tisch lehnend. Den folgenden Tag vom frühen Morgen an
wurden unaufhörlich neue Arrestanten herein und heraus geführt, Militärs
und Civilisten, Bekannte und Unbekannte. Waren ihrer zuviele auf einmal


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[0154] rung eindringen; sie sollten dem Kaiser Gelegenheit bieten, jeden der Ver¬ schwörer einzeln zu sprechen und zu sehen und die Namen der noch nicht be¬ kannten Teilnehmer in Erfahrung zu bringen. Sobald solche Namen ge¬ nannt waren, wurden sogleich Feldjäger, Gensd'armen, Offiziere aller Waffengattungen entsendet, um die Angeschuldigten zu verhaften. Eines der merkwürdigsten Verhöre fand mit N. A. Bestushew statt. Dieser hatte in der Nacht, welche dem 14. December folgte, sich durch die Flucht retten wollen und den Weg nach Schweden dazu gewählt; er erreichte den Leucht¬ thurm Tolbuchin, wo die wachehaltenden Matrosen ihn als Gehülfen des Generals Spasowiew, Directors aller Leuchtthürme, kannten. Er wollte dort einige Stunden ruhen, wurde aber zu seinem Unglück von der Frau eines Matrosen als Flüchtling erkannt und angezeigt, sodaß man ihn einholte und den anderen Tag in den Winterpalast brachte. Entkräftet durch Hunger, Er¬ müdung und Kälte wandte er sich an den ihm begegnenden Großfürsten Michael mit der Bitte, er möge befehlen, daß ihm etwas Nahrung gegeben werde, sonst werde er kaum im Stande sein, im Verhöre zu antworten. In dem¬ selben Gemache war das Abendessen für die Dujour-Flügeladjutanten auf¬ getragen; der Großfürst hieß Bestushew sich zu Tische setzen und unterhielt sich während der Mahlzeit mit ihm. Als Bestushew fortgeführt wurde, sagte der Großfürst zu seinem Adjutanten Bibikow: „Gott sei Dank, daß ich mit diesem Manne nicht schon vorgestern bekannt war, er hätte mich am Ende mit hineingezogen." — Der Kaiser empfing Bestushew milde und sagte ihm: „Du weißt, ich kann Dir verzeihen, und wenn ich sicher sein könnte, in Dir künftig einen treuen Diener zu haben, so bin ich bereit, Dir zu verzeihen." Bestushew antwortete: „Majestät, das ist eben das Unglück, daß Sie Alles thun können, daß Sie über dem Gesetz stehen; wir wollten Nichts weiter, als bewirken, daß das Loos Ihrer Unterthanen künftig blos vom Gesetz abhängig sei, nicht von Ihrer Laune." In demselben Geiste haben sich auch Andere der Schuldigen vor dem Kaiser gelegentlich des Ver¬ hörs geäußert. Nach Beendigung meines ersten Verhörs führte man mich wieder in das Vorzimmer der Hauptwache des Palais hinter die bekannte Scheidewand zurück. Licht erhielt ich durch die Glasthüre, Wärme durch das obere Ende der Scheidewand, mithin war es weder hell noch warm, höchstens einige Stunden lang überhaupt erträglich; ich erwartete jede Minute auf eine andere Hauptwache oder in die Festung übergeführt zu werden und ergab mich darum mit Geduld in mein Schicksal. Die Nacht schlief ich auf einem Stuhle, mich mit dem Arm auf einen Tisch lehnend. Den folgenden Tag vom frühen Morgen an wurden unaufhörlich neue Arrestanten herein und heraus geführt, Militärs und Civilisten, Bekannte und Unbekannte. Waren ihrer zuviele auf einmal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/154>, abgerufen am 11.02.2025.