Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.Es gibt, seitdem ein ungarisches Ministerium besteht, für Oestreich keine Wahl Es gibt, seitdem ein ungarisches Ministerium besteht, für Oestreich keine Wahl <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0148" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287420"/> <p xml:id="ID_353" prev="#ID_352" next="#ID_354"> Es gibt, seitdem ein ungarisches Ministerium besteht, für Oestreich keine Wahl<lb/> mehr, keine Transaction mit einer dritten, vierten, fünften Völkerschaft.<lb/> Der Kaiserstaat ist erkrankt, ja er schien in einem Menschenalter zweimal<lb/> seiner Auflösung nahe, weil sich fast in allen Landschaften unter einem geist¬<lb/> losen und trotz tyrannischer Bevormundung doch schwachen Regiment die un¬<lb/> zufriedenen Stämme einen localen Patriotismus suchten. Ueberall ist das<lb/> Deutschthum zurückgewichen, selbst in der Vertheidigung machtlos, im Littoral, in<lb/> Welschtirol, in Kärnthen und Krain, in Böhmen, in Mähren. Das war lange<lb/> eine Unehre für die Deutschöstreicher, dann wurde es die größte Gefahr für den<lb/> Staat. Bitter hat sich gerächt, daß der große Staat durch fast 60 Jahre<lb/> den Interessen eines ultramontanen Clerus und einer- reactionären Aristo¬<lb/> kratie diente. Noch ist es Zeit, den Fortschritten feindseliger Volkswünsche<lb/> und staatsvernichtender politischer Forderungen da zu steuern, wo dies<lb/> Fremde mit den letzten Lebensbedingungen des Kaiserstaats in Widerspruch<lb/> tritt. Nirgend aber ist dieser Widerspruch auffälliger geworden, als in Böhmen.<lb/> Was die Czechen während und nach jener berüchtigten Reise nach Ru߬<lb/> land getrieben haben, war schlechtverhüllter Landesverrat!). Denn mit scham¬<lb/> loser Offenheit ist die Tendenz hervorgetreten, sich dem russischen Staat an¬<lb/> zuschließen; die Russen selbst mußten gegen diese Zumuthung protestiren.<lb/> Und dies Unrecht wird nicht besser dadurch, daß die czechischen Führer sich<lb/> über das gesetzliche Unrecht und die Illoyalität ihres Thuns nicht klar<lb/> waren. Die Ehrfurcht vor der Idee des Staates ist in ganz Oestreich sehr<lb/> verringert; es ist Zeit, daß die Regierung das Ihre thut, sie den Völkern<lb/> wiederzugeben. Allerdings vermögen Ausnahmsgesetze und Belagerungszu¬<lb/> stand dies nicht zu bewirken; man kann dadurch im besten Fall auf einige<lb/> Zeit ein Symptom beginnender Zersetzung des Staatsorganismus beseitigen,'<lb/> nicht das Uebel selbst. Und die liberalen Stimmen aus Wien haben ganz<lb/> Recht, wenn sie auszuführen suchen, daß nur auf freisin niger Grundlage<lb/> durch Beschränkung der Priestermacht, durch Hebung des Volksunterrichts<lb/> und durch sorgfältige Pflege der realen Interessen Bildung, Wohlstand.<lb/> Kraftgefühl des Volkes gesteigert werden können. Wenn aber der Deutsch-<lb/> östreicher hofft, daß man durch sein Verfasfungsschema und durch Gesetzgebung<lb/> allein oder vorzugsweise das eingewurzelte Uebel bändigen und die Czechen<lb/> allmählich von ihrem Separatismus zur Hingabe an den Staat führen<lb/> werde, so ist auch er in einem verhängnißvollen Irrthum. Es ist eine acute<lb/> Krankheit und energische Gegenmittel sind erforderlich, um der Ausbreitung<lb/> des Uebels zu steuern. Die Gewaltherrschaft des Baron Koller ist wahr¬<lb/> scheinlich nöthig, um im Augenblick den bubenhaften Trotz zu bändigen, und<lb/> es ist schlimm genug, daß sie nöthig geworden ist. Um aber die Czechenkrankheit<lb/> zu heilen bedarf es vor Allem der Wiedereinsetzung des Deutschthums in</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0148]
Es gibt, seitdem ein ungarisches Ministerium besteht, für Oestreich keine Wahl
mehr, keine Transaction mit einer dritten, vierten, fünften Völkerschaft.
Der Kaiserstaat ist erkrankt, ja er schien in einem Menschenalter zweimal
seiner Auflösung nahe, weil sich fast in allen Landschaften unter einem geist¬
losen und trotz tyrannischer Bevormundung doch schwachen Regiment die un¬
zufriedenen Stämme einen localen Patriotismus suchten. Ueberall ist das
Deutschthum zurückgewichen, selbst in der Vertheidigung machtlos, im Littoral, in
Welschtirol, in Kärnthen und Krain, in Böhmen, in Mähren. Das war lange
eine Unehre für die Deutschöstreicher, dann wurde es die größte Gefahr für den
Staat. Bitter hat sich gerächt, daß der große Staat durch fast 60 Jahre
den Interessen eines ultramontanen Clerus und einer- reactionären Aristo¬
kratie diente. Noch ist es Zeit, den Fortschritten feindseliger Volkswünsche
und staatsvernichtender politischer Forderungen da zu steuern, wo dies
Fremde mit den letzten Lebensbedingungen des Kaiserstaats in Widerspruch
tritt. Nirgend aber ist dieser Widerspruch auffälliger geworden, als in Böhmen.
Was die Czechen während und nach jener berüchtigten Reise nach Ru߬
land getrieben haben, war schlechtverhüllter Landesverrat!). Denn mit scham¬
loser Offenheit ist die Tendenz hervorgetreten, sich dem russischen Staat an¬
zuschließen; die Russen selbst mußten gegen diese Zumuthung protestiren.
Und dies Unrecht wird nicht besser dadurch, daß die czechischen Führer sich
über das gesetzliche Unrecht und die Illoyalität ihres Thuns nicht klar
waren. Die Ehrfurcht vor der Idee des Staates ist in ganz Oestreich sehr
verringert; es ist Zeit, daß die Regierung das Ihre thut, sie den Völkern
wiederzugeben. Allerdings vermögen Ausnahmsgesetze und Belagerungszu¬
stand dies nicht zu bewirken; man kann dadurch im besten Fall auf einige
Zeit ein Symptom beginnender Zersetzung des Staatsorganismus beseitigen,'
nicht das Uebel selbst. Und die liberalen Stimmen aus Wien haben ganz
Recht, wenn sie auszuführen suchen, daß nur auf freisin niger Grundlage
durch Beschränkung der Priestermacht, durch Hebung des Volksunterrichts
und durch sorgfältige Pflege der realen Interessen Bildung, Wohlstand.
Kraftgefühl des Volkes gesteigert werden können. Wenn aber der Deutsch-
östreicher hofft, daß man durch sein Verfasfungsschema und durch Gesetzgebung
allein oder vorzugsweise das eingewurzelte Uebel bändigen und die Czechen
allmählich von ihrem Separatismus zur Hingabe an den Staat führen
werde, so ist auch er in einem verhängnißvollen Irrthum. Es ist eine acute
Krankheit und energische Gegenmittel sind erforderlich, um der Ausbreitung
des Uebels zu steuern. Die Gewaltherrschaft des Baron Koller ist wahr¬
scheinlich nöthig, um im Augenblick den bubenhaften Trotz zu bändigen, und
es ist schlimm genug, daß sie nöthig geworden ist. Um aber die Czechenkrankheit
zu heilen bedarf es vor Allem der Wiedereinsetzung des Deutschthums in
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