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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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wie im vorigen Jahre das Verhalten des Regierungspräsidenten bei den
Wahlen zum Reichstage. Unwillkürlich müssen wir die Frage, die sich uns
schon früher aufgedrängt hatte, noch einmal wiederholen: mit welchem Recht
stößt man die alten und erprobten Freunde zurück, da man sich durch eine
ziemlich langjährige Erfahrung von der eigenen Unfähigkeit, neue Freunde
zu gewinnen, sattsam überzeugt haben muß? Was verschlägt es, müssen wir
weiter fragen, daß die Verhandlungen des hannoverschen Provinzialland-
tages zu relativ befriedigenden Resultaten geführt worden sind, wenn man
gleichzeitig einen wahren Sturm von Unwillen für die nächsten Provinzial-
versammlungenin den südwestlichen Ländern heraufbeschworen hat? Die Stim¬
mung, in welcher die Mehrzahl der neupreußischen Vertreter am 4. Novem¬
ber dieses Jahres nach Berlin kommen wird, dürfte der Regierung sehr viel
minder günstig sein als die des vorigen Jahres, wo die altpreußischen Glieder
der liberalen Parteien durch ihre neuen Kollegen wiederholt zu einem ent¬
gegenkommenden Verhalten gegen das Ministerium veranlaßt wurden. Die
Parole, daß dem herrschenden System Heuer schärfer zu Leibe gegangen werden
müsse, ist dieses Mal in den nationalliberalen Kreisen Hannovers, nicht wie
früher in Berlin oder Breslau ausgegeben worden.

In den alten Provinzen bedingt schon die Waffenbrüderschaft aus der
Zeit des Conflicts daß die nationale Partei der Demokratie näher gerückt
ist als in den Provinzen, wo die Gesinnungsgenossen sich lediglich nach ihrer
Stellung zu der nationalen Frage zusammengefunden haben. Wenn die Ver¬
suche zu einer Coalition der nationalen in der Fortschrittspartei auch dieses
Mal noch viel rascher und empfindlicher zu Boden gefallen sind, als im Som¬
mer des vorigen Jahres, so läßt sich doch absehen, daß die nationalen Ver¬
treter der alten Provinzen dem Ministerium noch reservirter entgegentreten
werden, als während der letzten Session. Was bis jetzt über die gegen¬
seitige Stellung zu der wichtigsten aller für die Tagesordnung bestimmten
Fragen, der nach den Bedingungen'eommunaler und provinzialer Selbstver¬
waltung, bekannt geworden ist, stimmt die Hoffnungen auf freundschaftliche
Verständigung ziemlich tief herab und Budgetdebatten haben noch nie und
nirgend zu einer Annäherung zwischen Regierung und Volksvertretung ge¬
führt. Dazu kommt, daß seit der monatelangen Entfernung des Grasen Bis-
marck von den Staatsgeschäften auch die weiteren Kreise, welche gewohnt sind
nach der äußeren Physiognomie der Dinge zu urtheilen, eine gewisse prickelnde
Ungeduld nach Zerstreuung der häßlichen Wolken zeigen, welche den Him¬
mel des inneren Staatslebens verhängen.

So erscheinen die Conjuncturen, unter denen sich der Beginn des heu¬
rigen politischen Winterfeldzugs vollzieht, als durchweg unerquickliche. Er¬
schütterungen und Conflicte ernsterer Natur sind nicht zu befürchten; aber es


wie im vorigen Jahre das Verhalten des Regierungspräsidenten bei den
Wahlen zum Reichstage. Unwillkürlich müssen wir die Frage, die sich uns
schon früher aufgedrängt hatte, noch einmal wiederholen: mit welchem Recht
stößt man die alten und erprobten Freunde zurück, da man sich durch eine
ziemlich langjährige Erfahrung von der eigenen Unfähigkeit, neue Freunde
zu gewinnen, sattsam überzeugt haben muß? Was verschlägt es, müssen wir
weiter fragen, daß die Verhandlungen des hannoverschen Provinzialland-
tages zu relativ befriedigenden Resultaten geführt worden sind, wenn man
gleichzeitig einen wahren Sturm von Unwillen für die nächsten Provinzial-
versammlungenin den südwestlichen Ländern heraufbeschworen hat? Die Stim¬
mung, in welcher die Mehrzahl der neupreußischen Vertreter am 4. Novem¬
ber dieses Jahres nach Berlin kommen wird, dürfte der Regierung sehr viel
minder günstig sein als die des vorigen Jahres, wo die altpreußischen Glieder
der liberalen Parteien durch ihre neuen Kollegen wiederholt zu einem ent¬
gegenkommenden Verhalten gegen das Ministerium veranlaßt wurden. Die
Parole, daß dem herrschenden System Heuer schärfer zu Leibe gegangen werden
müsse, ist dieses Mal in den nationalliberalen Kreisen Hannovers, nicht wie
früher in Berlin oder Breslau ausgegeben worden.

In den alten Provinzen bedingt schon die Waffenbrüderschaft aus der
Zeit des Conflicts daß die nationale Partei der Demokratie näher gerückt
ist als in den Provinzen, wo die Gesinnungsgenossen sich lediglich nach ihrer
Stellung zu der nationalen Frage zusammengefunden haben. Wenn die Ver¬
suche zu einer Coalition der nationalen in der Fortschrittspartei auch dieses
Mal noch viel rascher und empfindlicher zu Boden gefallen sind, als im Som¬
mer des vorigen Jahres, so läßt sich doch absehen, daß die nationalen Ver¬
treter der alten Provinzen dem Ministerium noch reservirter entgegentreten
werden, als während der letzten Session. Was bis jetzt über die gegen¬
seitige Stellung zu der wichtigsten aller für die Tagesordnung bestimmten
Fragen, der nach den Bedingungen'eommunaler und provinzialer Selbstver¬
waltung, bekannt geworden ist, stimmt die Hoffnungen auf freundschaftliche
Verständigung ziemlich tief herab und Budgetdebatten haben noch nie und
nirgend zu einer Annäherung zwischen Regierung und Volksvertretung ge¬
führt. Dazu kommt, daß seit der monatelangen Entfernung des Grasen Bis-
marck von den Staatsgeschäften auch die weiteren Kreise, welche gewohnt sind
nach der äußeren Physiognomie der Dinge zu urtheilen, eine gewisse prickelnde
Ungeduld nach Zerstreuung der häßlichen Wolken zeigen, welche den Him¬
mel des inneren Staatslebens verhängen.

So erscheinen die Conjuncturen, unter denen sich der Beginn des heu¬
rigen politischen Winterfeldzugs vollzieht, als durchweg unerquickliche. Er¬
schütterungen und Conflicte ernsterer Natur sind nicht zu befürchten; aber es


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[0140] wie im vorigen Jahre das Verhalten des Regierungspräsidenten bei den Wahlen zum Reichstage. Unwillkürlich müssen wir die Frage, die sich uns schon früher aufgedrängt hatte, noch einmal wiederholen: mit welchem Recht stößt man die alten und erprobten Freunde zurück, da man sich durch eine ziemlich langjährige Erfahrung von der eigenen Unfähigkeit, neue Freunde zu gewinnen, sattsam überzeugt haben muß? Was verschlägt es, müssen wir weiter fragen, daß die Verhandlungen des hannoverschen Provinzialland- tages zu relativ befriedigenden Resultaten geführt worden sind, wenn man gleichzeitig einen wahren Sturm von Unwillen für die nächsten Provinzial- versammlungenin den südwestlichen Ländern heraufbeschworen hat? Die Stim¬ mung, in welcher die Mehrzahl der neupreußischen Vertreter am 4. Novem¬ ber dieses Jahres nach Berlin kommen wird, dürfte der Regierung sehr viel minder günstig sein als die des vorigen Jahres, wo die altpreußischen Glieder der liberalen Parteien durch ihre neuen Kollegen wiederholt zu einem ent¬ gegenkommenden Verhalten gegen das Ministerium veranlaßt wurden. Die Parole, daß dem herrschenden System Heuer schärfer zu Leibe gegangen werden müsse, ist dieses Mal in den nationalliberalen Kreisen Hannovers, nicht wie früher in Berlin oder Breslau ausgegeben worden. In den alten Provinzen bedingt schon die Waffenbrüderschaft aus der Zeit des Conflicts daß die nationale Partei der Demokratie näher gerückt ist als in den Provinzen, wo die Gesinnungsgenossen sich lediglich nach ihrer Stellung zu der nationalen Frage zusammengefunden haben. Wenn die Ver¬ suche zu einer Coalition der nationalen in der Fortschrittspartei auch dieses Mal noch viel rascher und empfindlicher zu Boden gefallen sind, als im Som¬ mer des vorigen Jahres, so läßt sich doch absehen, daß die nationalen Ver¬ treter der alten Provinzen dem Ministerium noch reservirter entgegentreten werden, als während der letzten Session. Was bis jetzt über die gegen¬ seitige Stellung zu der wichtigsten aller für die Tagesordnung bestimmten Fragen, der nach den Bedingungen'eommunaler und provinzialer Selbstver¬ waltung, bekannt geworden ist, stimmt die Hoffnungen auf freundschaftliche Verständigung ziemlich tief herab und Budgetdebatten haben noch nie und nirgend zu einer Annäherung zwischen Regierung und Volksvertretung ge¬ führt. Dazu kommt, daß seit der monatelangen Entfernung des Grasen Bis- marck von den Staatsgeschäften auch die weiteren Kreise, welche gewohnt sind nach der äußeren Physiognomie der Dinge zu urtheilen, eine gewisse prickelnde Ungeduld nach Zerstreuung der häßlichen Wolken zeigen, welche den Him¬ mel des inneren Staatslebens verhängen. So erscheinen die Conjuncturen, unter denen sich der Beginn des heu¬ rigen politischen Winterfeldzugs vollzieht, als durchweg unerquickliche. Er¬ schütterungen und Conflicte ernsterer Natur sind nicht zu befürchten; aber es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/140>, abgerufen am 05.02.2025.