Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Landmanns ebenso verhindern, wie sie seine freie Bewegung und die Nutz¬
barmachung seiner Kräfte schmälern, sind seit Aufhebung der Leibeigenschaft
besonders unerträglich geworden, denn sie haben die wohlthätigen Folgen der
bäuerlichen Freiheit fast völlig erstickt. Nachdem der Arbeitszwang, den die
Gutsherrn in früherer Zeit ausübten, weggefallen, nehmen bei dem Mangel
eines Sporns zu erhöhter Thätigkeit und Production Trägheit und Lieder¬
lichkeit in den russischen Landgemeinden allenthalben zu und es ist eine offi-
ciell anerkannte Thatsache, daß nicht nur die russische, Landwirthschaft seit
1861 erheblich zurückgegangen ist, sondern daß die Hungersnoth des vorigen
Winters wesentlich durch die Lässigkeit des Landvolks verschuldet worden,
das seine Aecker zum Theil unbearbeitet ließ und die in den Magazinen ge¬
sammelten Vorräthe früherer Jahre leichtfertig durchbrachte.

Nichtsdestoweniger hält die Mehrzahl der Anhänger der mächtigen
russischen Nationalpartei an den Instituten des Gemeindebesitzes und der soli¬
darischen Haftbarkeit aller Markgenossen mit schwärmerischem Eifer fest. Sie
sehen darin nicht nur einen Eck- und Grundstein der russischen Volkseigen¬
thümlichkeit, sondern zugleich die Lösung der socialen Frage und die festeste
Garantie gegen die Bildung eines Proletariats. Aus dem Gemeindebesitz
werden ein allgemeines Menschenrecht auf gleichen Antheil am Grund und
Boden und die Verwerflichkeit jedes individuellen Eigenthums an der Mutter
Erde abgeleitet, und nach panslavistischer Vorstellung ist dieses socialistische
Institut die Waffe, mit welcher der slavisch-russische Stamm die Welt erobern
wird, allenthalben von der Masse der Besitzlosen unterstützt und als Befreier
mit Jubel begrüßt.

Das vorliegende Buch bildet unseres Wissens die erste zusammenhängende
und selbständige Behandlung dieses für die Zukunft Rußlands eminent wich¬
tigen Gegenstandes. Der Verfasser beleuchtet die russische Landgemeinde und
ihre eigenthümliche Organisation von der wirthschaftlichen wie von der poli¬
tischen Seite, indem er sämmtliche für und wider dieselbe geltend gemachten
Argumente aufzählt, analysirt hub im Einzelnen beurtheilt. Natürlich ge¬
langt er zu der Corwlusion, daß die Aufrechterhaltung dieses Prokrustesbetts
aller selbständigen Thätigkeit unmöglich sei, wenn sie nicht mit dem Preise
eines vollständigen wirthschaftlichen Ruins in Rußland und ewiger Kindheit
der russischen Landwirthschaft bezahlt werden solle. Sodann geht er in einem
besonderen und sehr ausführlichen Capitel auf die Mittel zur Abhilfe über,
in dem er die Grundlinien eines vollständigen Reformsystems entwirft.

Den seit unvordenklicher Zeit in der russischen Volksanschauung be¬
gründeten Glauben an das Besitzrecht der Gemeinde und die Nothwendig¬
keit ihrer wirthschaftlichen Einheit glaubt der Verfasser nicht direct antasten
oder als Aberglauben bei Seite schieben zu dürfen. Er schlägt vor, das Eigen-


Landmanns ebenso verhindern, wie sie seine freie Bewegung und die Nutz¬
barmachung seiner Kräfte schmälern, sind seit Aufhebung der Leibeigenschaft
besonders unerträglich geworden, denn sie haben die wohlthätigen Folgen der
bäuerlichen Freiheit fast völlig erstickt. Nachdem der Arbeitszwang, den die
Gutsherrn in früherer Zeit ausübten, weggefallen, nehmen bei dem Mangel
eines Sporns zu erhöhter Thätigkeit und Production Trägheit und Lieder¬
lichkeit in den russischen Landgemeinden allenthalben zu und es ist eine offi-
ciell anerkannte Thatsache, daß nicht nur die russische, Landwirthschaft seit
1861 erheblich zurückgegangen ist, sondern daß die Hungersnoth des vorigen
Winters wesentlich durch die Lässigkeit des Landvolks verschuldet worden,
das seine Aecker zum Theil unbearbeitet ließ und die in den Magazinen ge¬
sammelten Vorräthe früherer Jahre leichtfertig durchbrachte.

Nichtsdestoweniger hält die Mehrzahl der Anhänger der mächtigen
russischen Nationalpartei an den Instituten des Gemeindebesitzes und der soli¬
darischen Haftbarkeit aller Markgenossen mit schwärmerischem Eifer fest. Sie
sehen darin nicht nur einen Eck- und Grundstein der russischen Volkseigen¬
thümlichkeit, sondern zugleich die Lösung der socialen Frage und die festeste
Garantie gegen die Bildung eines Proletariats. Aus dem Gemeindebesitz
werden ein allgemeines Menschenrecht auf gleichen Antheil am Grund und
Boden und die Verwerflichkeit jedes individuellen Eigenthums an der Mutter
Erde abgeleitet, und nach panslavistischer Vorstellung ist dieses socialistische
Institut die Waffe, mit welcher der slavisch-russische Stamm die Welt erobern
wird, allenthalben von der Masse der Besitzlosen unterstützt und als Befreier
mit Jubel begrüßt.

Das vorliegende Buch bildet unseres Wissens die erste zusammenhängende
und selbständige Behandlung dieses für die Zukunft Rußlands eminent wich¬
tigen Gegenstandes. Der Verfasser beleuchtet die russische Landgemeinde und
ihre eigenthümliche Organisation von der wirthschaftlichen wie von der poli¬
tischen Seite, indem er sämmtliche für und wider dieselbe geltend gemachten
Argumente aufzählt, analysirt hub im Einzelnen beurtheilt. Natürlich ge¬
langt er zu der Corwlusion, daß die Aufrechterhaltung dieses Prokrustesbetts
aller selbständigen Thätigkeit unmöglich sei, wenn sie nicht mit dem Preise
eines vollständigen wirthschaftlichen Ruins in Rußland und ewiger Kindheit
der russischen Landwirthschaft bezahlt werden solle. Sodann geht er in einem
besonderen und sehr ausführlichen Capitel auf die Mittel zur Abhilfe über,
in dem er die Grundlinien eines vollständigen Reformsystems entwirft.

Den seit unvordenklicher Zeit in der russischen Volksanschauung be¬
gründeten Glauben an das Besitzrecht der Gemeinde und die Nothwendig¬
keit ihrer wirthschaftlichen Einheit glaubt der Verfasser nicht direct antasten
oder als Aberglauben bei Seite schieben zu dürfen. Er schlägt vor, das Eigen-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0014" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287286"/>
          <p xml:id="ID_14" prev="#ID_13"> Landmanns ebenso verhindern, wie sie seine freie Bewegung und die Nutz¬<lb/>
barmachung seiner Kräfte schmälern, sind seit Aufhebung der Leibeigenschaft<lb/>
besonders unerträglich geworden, denn sie haben die wohlthätigen Folgen der<lb/>
bäuerlichen Freiheit fast völlig erstickt. Nachdem der Arbeitszwang, den die<lb/>
Gutsherrn in früherer Zeit ausübten, weggefallen, nehmen bei dem Mangel<lb/>
eines Sporns zu erhöhter Thätigkeit und Production Trägheit und Lieder¬<lb/>
lichkeit in den russischen Landgemeinden allenthalben zu und es ist eine offi-<lb/>
ciell anerkannte Thatsache, daß nicht nur die russische, Landwirthschaft seit<lb/>
1861 erheblich zurückgegangen ist, sondern daß die Hungersnoth des vorigen<lb/>
Winters wesentlich durch die Lässigkeit des Landvolks verschuldet worden,<lb/>
das seine Aecker zum Theil unbearbeitet ließ und die in den Magazinen ge¬<lb/>
sammelten Vorräthe früherer Jahre leichtfertig durchbrachte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_15"> Nichtsdestoweniger hält die Mehrzahl der Anhänger der mächtigen<lb/>
russischen Nationalpartei an den Instituten des Gemeindebesitzes und der soli¬<lb/>
darischen Haftbarkeit aller Markgenossen mit schwärmerischem Eifer fest. Sie<lb/>
sehen darin nicht nur einen Eck- und Grundstein der russischen Volkseigen¬<lb/>
thümlichkeit, sondern zugleich die Lösung der socialen Frage und die festeste<lb/>
Garantie gegen die Bildung eines Proletariats. Aus dem Gemeindebesitz<lb/>
werden ein allgemeines Menschenrecht auf gleichen Antheil am Grund und<lb/>
Boden und die Verwerflichkeit jedes individuellen Eigenthums an der Mutter<lb/>
Erde abgeleitet, und nach panslavistischer Vorstellung ist dieses socialistische<lb/>
Institut die Waffe, mit welcher der slavisch-russische Stamm die Welt erobern<lb/>
wird, allenthalben von der Masse der Besitzlosen unterstützt und als Befreier<lb/>
mit Jubel begrüßt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_16"> Das vorliegende Buch bildet unseres Wissens die erste zusammenhängende<lb/>
und selbständige Behandlung dieses für die Zukunft Rußlands eminent wich¬<lb/>
tigen Gegenstandes. Der Verfasser beleuchtet die russische Landgemeinde und<lb/>
ihre eigenthümliche Organisation von der wirthschaftlichen wie von der poli¬<lb/>
tischen Seite, indem er sämmtliche für und wider dieselbe geltend gemachten<lb/>
Argumente aufzählt, analysirt hub im Einzelnen beurtheilt. Natürlich ge¬<lb/>
langt er zu der Corwlusion, daß die Aufrechterhaltung dieses Prokrustesbetts<lb/>
aller selbständigen Thätigkeit unmöglich sei, wenn sie nicht mit dem Preise<lb/>
eines vollständigen wirthschaftlichen Ruins in Rußland und ewiger Kindheit<lb/>
der russischen Landwirthschaft bezahlt werden solle. Sodann geht er in einem<lb/>
besonderen und sehr ausführlichen Capitel auf die Mittel zur Abhilfe über,<lb/>
in dem er die Grundlinien eines vollständigen Reformsystems entwirft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_17" next="#ID_18"> Den seit unvordenklicher Zeit in der russischen Volksanschauung be¬<lb/>
gründeten Glauben an das Besitzrecht der Gemeinde und die Nothwendig¬<lb/>
keit ihrer wirthschaftlichen Einheit glaubt der Verfasser nicht direct antasten<lb/>
oder als Aberglauben bei Seite schieben zu dürfen. Er schlägt vor, das Eigen-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0014] Landmanns ebenso verhindern, wie sie seine freie Bewegung und die Nutz¬ barmachung seiner Kräfte schmälern, sind seit Aufhebung der Leibeigenschaft besonders unerträglich geworden, denn sie haben die wohlthätigen Folgen der bäuerlichen Freiheit fast völlig erstickt. Nachdem der Arbeitszwang, den die Gutsherrn in früherer Zeit ausübten, weggefallen, nehmen bei dem Mangel eines Sporns zu erhöhter Thätigkeit und Production Trägheit und Lieder¬ lichkeit in den russischen Landgemeinden allenthalben zu und es ist eine offi- ciell anerkannte Thatsache, daß nicht nur die russische, Landwirthschaft seit 1861 erheblich zurückgegangen ist, sondern daß die Hungersnoth des vorigen Winters wesentlich durch die Lässigkeit des Landvolks verschuldet worden, das seine Aecker zum Theil unbearbeitet ließ und die in den Magazinen ge¬ sammelten Vorräthe früherer Jahre leichtfertig durchbrachte. Nichtsdestoweniger hält die Mehrzahl der Anhänger der mächtigen russischen Nationalpartei an den Instituten des Gemeindebesitzes und der soli¬ darischen Haftbarkeit aller Markgenossen mit schwärmerischem Eifer fest. Sie sehen darin nicht nur einen Eck- und Grundstein der russischen Volkseigen¬ thümlichkeit, sondern zugleich die Lösung der socialen Frage und die festeste Garantie gegen die Bildung eines Proletariats. Aus dem Gemeindebesitz werden ein allgemeines Menschenrecht auf gleichen Antheil am Grund und Boden und die Verwerflichkeit jedes individuellen Eigenthums an der Mutter Erde abgeleitet, und nach panslavistischer Vorstellung ist dieses socialistische Institut die Waffe, mit welcher der slavisch-russische Stamm die Welt erobern wird, allenthalben von der Masse der Besitzlosen unterstützt und als Befreier mit Jubel begrüßt. Das vorliegende Buch bildet unseres Wissens die erste zusammenhängende und selbständige Behandlung dieses für die Zukunft Rußlands eminent wich¬ tigen Gegenstandes. Der Verfasser beleuchtet die russische Landgemeinde und ihre eigenthümliche Organisation von der wirthschaftlichen wie von der poli¬ tischen Seite, indem er sämmtliche für und wider dieselbe geltend gemachten Argumente aufzählt, analysirt hub im Einzelnen beurtheilt. Natürlich ge¬ langt er zu der Corwlusion, daß die Aufrechterhaltung dieses Prokrustesbetts aller selbständigen Thätigkeit unmöglich sei, wenn sie nicht mit dem Preise eines vollständigen wirthschaftlichen Ruins in Rußland und ewiger Kindheit der russischen Landwirthschaft bezahlt werden solle. Sodann geht er in einem besonderen und sehr ausführlichen Capitel auf die Mittel zur Abhilfe über, in dem er die Grundlinien eines vollständigen Reformsystems entwirft. Den seit unvordenklicher Zeit in der russischen Volksanschauung be¬ gründeten Glauben an das Besitzrecht der Gemeinde und die Nothwendig¬ keit ihrer wirthschaftlichen Einheit glaubt der Verfasser nicht direct antasten oder als Aberglauben bei Seite schieben zu dürfen. Er schlägt vor, das Eigen-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/14
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/14>, abgerufen am 05.02.2025.