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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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oder "wildes" Land). Der so classificirte Boden wird dann noch nach seinem
Ertragswerthe abgeschätzt und in "Wannen" oder "Säulen" (provinziell liv-
ländisch: Schnurländereien) getheilt und zwar so, daß jede Wanne einen einiger¬
maßen in jenen Beziehungen homogenen Bestandtheil bildet. Von jeder
Wanne bekommt jeder Antheilnehmer in der Gemeinde vermittelst Verloosung
einen langen schmalen Streifen von 3--6 Faden Breite auf 100--500 Faden
Länge, sodaß der Antheil eines jeden in lauter verschiedenen, von einander
getrennten Streifen besteht. "In jeder Gemeinde" so berichtet Haxthausen in
seinen Studien, "soll es gewandte Agrimensoren geben, die traditionell aus¬
gebildet das Theilungsgeschäft mit Einsicht und zur Zufriedenheit ausführen.
Es wird gerühmt, daß dabei die größte Gerechtigkeit und Billigkeit herrsche
und nie Streit entstehe."

Die Mängel und Schäden dieses eigenthümlichen Systems, dessen wesent¬
lich socialistischer Charakter auf der Hand liegt, leuchten Jedem, der mit dem
ABC der Volkswirthschaftslehre bekannt ist, so deutlich ein, daß sie des
Nachweises kaum bedürfen. Bei dem Mangel alles individuellen Besitzes
am Grund und Boden fällt für die zeitweiligen Parcelleninhaber jedes In¬
teresse, ja jede Möglichkeit eines Interesses an der gesteigerten Produktivität
desselben weg. Da die Pareelle, auf welche der Einzelne sein Capital und
seinen Schweiß verwandt hat, bei der nächsten Neuvertheilung in fremde
Hände kommt, hat der jeweilige Inhaber gar keinen Grund, dieselbe ratio¬
nell oder auch nur ordentlich zu bewirthschaften -- die Früchte seiner Melio¬
rationen fallen nicht ihm, sondern seinem muthmaßlichen Nachfolger in den
Schooß. -- Eine fernere Folge des Parcellirungssystems ist die Unmöglichkeit
der Herstellung eines wirthschaftlich geordneten Organismus. Der Antheil
des Einzelnen besteht aus einer Anzahl zusammenhangsloser Stücke, zu
deren Bearbeitung ihm nur die eigenen Hände und höchstens die seiner noch
unerwachsenen Kinder zu Gebote stehen -- sobald dieselben zu ihren Jahren
gekommen sind, treten sie selbst in die Reihe der bei der nächsten Verloosung
zu berücksichtigenden Personen.

Nur eine Consequenz der wirthschaftlichen Abhängigkeit des Einzelnen
von der Gemeinde ist es, daß die Steuern nicht von den einzelnen Indivi¬
duen, sondern nur von der Gesammtgemeinde erhoben werden, die Glieder
derselben für einander solidarisch verhaftet sind. Für den Trägen, der zah¬
lungsunfähig geworden, wird der Fleißige ohne Weiteres in Anspruch ge¬
nommen, und die Gemeinde, ohne deren Zustimmung Niemand seinen Wohn¬
sitz verändern darf, hat die natürliche Tendenz, ihre tüchtigen Glieder in stren¬
ger Anhängigkeit zu erhalten, ihnen die Entfernung von der Heimath mög¬
lichst zu erschweren oder gar unmöglich zu machen.

Diese Uebelstände, welche die wirthschaftliche Entwickelung des russischen


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oder „wildes" Land). Der so classificirte Boden wird dann noch nach seinem
Ertragswerthe abgeschätzt und in „Wannen" oder „Säulen" (provinziell liv-
ländisch: Schnurländereien) getheilt und zwar so, daß jede Wanne einen einiger¬
maßen in jenen Beziehungen homogenen Bestandtheil bildet. Von jeder
Wanne bekommt jeder Antheilnehmer in der Gemeinde vermittelst Verloosung
einen langen schmalen Streifen von 3—6 Faden Breite auf 100—500 Faden
Länge, sodaß der Antheil eines jeden in lauter verschiedenen, von einander
getrennten Streifen besteht. „In jeder Gemeinde" so berichtet Haxthausen in
seinen Studien, „soll es gewandte Agrimensoren geben, die traditionell aus¬
gebildet das Theilungsgeschäft mit Einsicht und zur Zufriedenheit ausführen.
Es wird gerühmt, daß dabei die größte Gerechtigkeit und Billigkeit herrsche
und nie Streit entstehe."

Die Mängel und Schäden dieses eigenthümlichen Systems, dessen wesent¬
lich socialistischer Charakter auf der Hand liegt, leuchten Jedem, der mit dem
ABC der Volkswirthschaftslehre bekannt ist, so deutlich ein, daß sie des
Nachweises kaum bedürfen. Bei dem Mangel alles individuellen Besitzes
am Grund und Boden fällt für die zeitweiligen Parcelleninhaber jedes In¬
teresse, ja jede Möglichkeit eines Interesses an der gesteigerten Produktivität
desselben weg. Da die Pareelle, auf welche der Einzelne sein Capital und
seinen Schweiß verwandt hat, bei der nächsten Neuvertheilung in fremde
Hände kommt, hat der jeweilige Inhaber gar keinen Grund, dieselbe ratio¬
nell oder auch nur ordentlich zu bewirthschaften — die Früchte seiner Melio¬
rationen fallen nicht ihm, sondern seinem muthmaßlichen Nachfolger in den
Schooß. — Eine fernere Folge des Parcellirungssystems ist die Unmöglichkeit
der Herstellung eines wirthschaftlich geordneten Organismus. Der Antheil
des Einzelnen besteht aus einer Anzahl zusammenhangsloser Stücke, zu
deren Bearbeitung ihm nur die eigenen Hände und höchstens die seiner noch
unerwachsenen Kinder zu Gebote stehen — sobald dieselben zu ihren Jahren
gekommen sind, treten sie selbst in die Reihe der bei der nächsten Verloosung
zu berücksichtigenden Personen.

Nur eine Consequenz der wirthschaftlichen Abhängigkeit des Einzelnen
von der Gemeinde ist es, daß die Steuern nicht von den einzelnen Indivi¬
duen, sondern nur von der Gesammtgemeinde erhoben werden, die Glieder
derselben für einander solidarisch verhaftet sind. Für den Trägen, der zah¬
lungsunfähig geworden, wird der Fleißige ohne Weiteres in Anspruch ge¬
nommen, und die Gemeinde, ohne deren Zustimmung Niemand seinen Wohn¬
sitz verändern darf, hat die natürliche Tendenz, ihre tüchtigen Glieder in stren¬
ger Anhängigkeit zu erhalten, ihnen die Entfernung von der Heimath mög¬
lichst zu erschweren oder gar unmöglich zu machen.

Diese Uebelstände, welche die wirthschaftliche Entwickelung des russischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/13>, abgerufen am 05.02.2025.