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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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sei eben eine solche, daß ein großer und kühner Schritt zugleich der weiseste sei,
daß nur ein solcher den Frieden wieder herzustellen vermöge. Daß die Re-
formbill dies gethan, ist unzweifelhaft und ebenso, daß nachdem sie einmal
vorgeschlagen, sie durchgesetzt werden mußte. Es ist aber eine andere Frage, ob
sie auf die Dauer die Aufgabe gelöst hat, und dies kann schwerlich behaup¬
tet werden, sonst hätte nicht nach kaum einem Menschenalter das Bedürfniß
nach einer neuen Maßregel Raum gewinnen können.

Sehen wir die Bill selbst näher an, so läßt sich nicht leugnen, daß sie
den Charakter einer Parteimaßregel trägt und zwar nicht blos weil sie einige
whtgistische Wahlflecken sorgfältig erhalten hat. sondern namentlich weil sie
dem städtischen Element, das fortan durch 405 Abgeordnete vertreten war,
ein gewaltiges Uebergewicht über das ländliche gegeben, welches nur 253
Vertreter zählte, obwohl die Grafschaften den bei weitem größten Theil der
Bevölkerung umfaßten; überdies waren die Städte nicht scharf gegen das
Land abgegrenzt, sodaß sie durch ihre Vorstädte auch die Grafschafts¬
wahlen beeinflußten. Die Whigs hatten auf dem Lande sogar nur eine
Erweiterung des Wahlrechts an die Erbpächter und an Zeitpächter, die auf
21 Jahre oder mehr wenigstens 50 Pfd. Sterl. zahlten vorgeschlagen, und
gaben erst auf Andringen der Opposition die sogenannte Chandos-Clausel,
nach welcher alle Pächter von 50 Pfd. Sterl. Wähler wurden.

Was sodann die städtischen Wählerschaften betrifft, so begünstigte die Bill
ausschließlich die niedrigere Mittelklasse, in welcher die Dissenters beson¬
ders stark sind und die immer sehr whigistisch gewesen war. Eine Wahlquali-
fication nach dem Miethzins wird immer besonders günstig für die kleinen
Händler und Ladeninhaber sein, weil sie im Verhältniß zu ihrer gesellschaft¬
lichen Stellung, ihrem Vermögen und ihrer Einsicht eine höhere Miethe
zahlen als die andern Classen. Die 10 Pfd. Sterl. Qualifikation schloß
fast alle diese ein und schloß damals fast alle eigentlichen Arbeiter aus. Auch
läßt sich manches gegen jenen einförmigen Satz sagen, denn ein Miethzins
von 10 Pfd. Sterl. ist offenbar in London oder Manchester etwas ganz
Andres als in Ehester oder Salesbury, und in der Hauptstadt selbst je nach
den Stadttheilen durchaus verschieden. Auch läßt sich überhaupt sehr wohl
bezweifeln, ob die Miethe einen richtigen Gradmesser für die politische Stel¬
lung eines Mannes gibt. Jedenfalls unterliegt jener feste Satz allen Ein¬
würfen, die gegen einen in Zahlen ausgedrückten Census geltend gemacht
werden; die Agitation wird immer suchen, denselben herabzusetzen und es ist
kein fester Halt zu finden, bis man nicht bei dem allgemeinen Wahlrecht an¬
gekommen.

Ebensowenig läßt sich behaupten, daß durch die Reformbill die Bestech¬
lichkeit erheblich vermindert ward; sie blüht noch heute, wie die fortwährenden


sei eben eine solche, daß ein großer und kühner Schritt zugleich der weiseste sei,
daß nur ein solcher den Frieden wieder herzustellen vermöge. Daß die Re-
formbill dies gethan, ist unzweifelhaft und ebenso, daß nachdem sie einmal
vorgeschlagen, sie durchgesetzt werden mußte. Es ist aber eine andere Frage, ob
sie auf die Dauer die Aufgabe gelöst hat, und dies kann schwerlich behaup¬
tet werden, sonst hätte nicht nach kaum einem Menschenalter das Bedürfniß
nach einer neuen Maßregel Raum gewinnen können.

Sehen wir die Bill selbst näher an, so läßt sich nicht leugnen, daß sie
den Charakter einer Parteimaßregel trägt und zwar nicht blos weil sie einige
whtgistische Wahlflecken sorgfältig erhalten hat. sondern namentlich weil sie
dem städtischen Element, das fortan durch 405 Abgeordnete vertreten war,
ein gewaltiges Uebergewicht über das ländliche gegeben, welches nur 253
Vertreter zählte, obwohl die Grafschaften den bei weitem größten Theil der
Bevölkerung umfaßten; überdies waren die Städte nicht scharf gegen das
Land abgegrenzt, sodaß sie durch ihre Vorstädte auch die Grafschafts¬
wahlen beeinflußten. Die Whigs hatten auf dem Lande sogar nur eine
Erweiterung des Wahlrechts an die Erbpächter und an Zeitpächter, die auf
21 Jahre oder mehr wenigstens 50 Pfd. Sterl. zahlten vorgeschlagen, und
gaben erst auf Andringen der Opposition die sogenannte Chandos-Clausel,
nach welcher alle Pächter von 50 Pfd. Sterl. Wähler wurden.

Was sodann die städtischen Wählerschaften betrifft, so begünstigte die Bill
ausschließlich die niedrigere Mittelklasse, in welcher die Dissenters beson¬
ders stark sind und die immer sehr whigistisch gewesen war. Eine Wahlquali-
fication nach dem Miethzins wird immer besonders günstig für die kleinen
Händler und Ladeninhaber sein, weil sie im Verhältniß zu ihrer gesellschaft¬
lichen Stellung, ihrem Vermögen und ihrer Einsicht eine höhere Miethe
zahlen als die andern Classen. Die 10 Pfd. Sterl. Qualifikation schloß
fast alle diese ein und schloß damals fast alle eigentlichen Arbeiter aus. Auch
läßt sich manches gegen jenen einförmigen Satz sagen, denn ein Miethzins
von 10 Pfd. Sterl. ist offenbar in London oder Manchester etwas ganz
Andres als in Ehester oder Salesbury, und in der Hauptstadt selbst je nach
den Stadttheilen durchaus verschieden. Auch läßt sich überhaupt sehr wohl
bezweifeln, ob die Miethe einen richtigen Gradmesser für die politische Stel¬
lung eines Mannes gibt. Jedenfalls unterliegt jener feste Satz allen Ein¬
würfen, die gegen einen in Zahlen ausgedrückten Census geltend gemacht
werden; die Agitation wird immer suchen, denselben herabzusetzen und es ist
kein fester Halt zu finden, bis man nicht bei dem allgemeinen Wahlrecht an¬
gekommen.

Ebensowenig läßt sich behaupten, daß durch die Reformbill die Bestech¬
lichkeit erheblich vermindert ward; sie blüht noch heute, wie die fortwährenden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/102>, abgerufen am 11.02.2025.