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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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Geschichte" in drei Theilen erschien und begann zugleich das Bibelwerk für
die Gemeinde. Beide verfolgen den Zweck, die Offenbarung mit der moder¬
nen Bildung zu vermitteln, die Kluft zwischen religiösem und geschichtlichem
Sinn, zwischen kirchlichem und wissenschaftlichem Gewissen zu überbrücken, indem
der Buchstabenglaube aufgehoben und doch der Beweis versucht wird, daß
die Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte durch die Anwendung freier
Kritik nicht beeinträchtigt wird. Bunsen hatte schon in Rom und Bonn
beabsichtigt, eine Folge von Bibellectionen herauszugeben, bei näherer Be¬
trachtung aber fand er es nöthig, die ganze Bibel in neuer berichtigter Ueber,
Setzung mit Einleitung und Commentar herauszugeben: sein Zweck war, die
Bibel dem Bewußtsein der Neuzeit wieder aufzuschließen und für das Ge¬
wissen der Menschheit wieder fruchtbar zu machen. Er ging an die Lösung
der Ausgabe mit der festen Ueberzeugung, daß sie möglich und nothwendig
sei; daß sie ihm gelungen, läßt sich schwerlich bejahen, zumal ihm nicht ein¬
mal vergönnt war, das Werk zu vollenden; daß es jedenfalls anregend gewirkt
hat, wird schon durch die Dssaxs ana lieviews bewiesen.

Am politischen Treiben nahm Bunsen während dieser Jahre wissenschaft¬
licher Thätigkeit wenig Antheil. Nur einmal trat er aus seiner Zurückge¬
zogenheit heraus als der König ihn dringend einlud, als sein Gast nach
Berlin zu kommen, um der evangelischen Allianz beizuwohnen; dort sahen sich
Beide noch einmal. Unmittelbar darauf erkrankte Friedrich Wilhelm, sein
letzter Regierungsact war die Erhebung Bunsen's ins Herrenhaus, in welchem
derselbe zu Beginn der Regentschaft seinen Platz einmal einnahm. Lebhaft
verfolgte er die heranziehende Verwickelung in Italien; mit dem richtigen
Jnstinct, den er so oft für anscheinend fernliegende Dinge zeigte, hatte er
schon 18S6 nach dem pariser Congreß an Cobden geschrieben: "Ich freue
wich, daß ein Schritt in der ersten Richtung gethan ist, durch den Grund¬
satz, den Lord Clarendon vertheidigt hat -- Schiedsrichterspruch und Nicht-
intervention. Politisch freilich haben wir nichts gewonnen. Polen und
Italien, die beiden vergifteten Wunden Europas, sind geblieben wie sie
waren und Italien ist jetzt überdies das unvermeidliche Object des nächsten
von Louis Napoleon beschlossenen Krieges geworden." Jetzt aber, im März
1869 spricht er sich bestimmter aus: "Meine Ansicht ist unverändert -- die
östreichische Herrschaft in Italien und die militärische Occupation sowie die
fortwährende Einmischung, in Staaten, die ihm nicht gehören, geht Deutsch¬
land nichts an und je eher dieser Gräuel aufhört, desto besser für Oestreich
selbst. England und Deutschland sind stark genug um zu hindern, daß Italien
eine französische Provinz werde. Vetter Michel ist von Tollheit ergriffen
Nach dem jahrelangen Vergiftungsproceß durch östreichische und ultramontane
Unwahrheiten. Ist nicht von allen Seiten während 36 Jahren Alles auf<


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Geschichte" in drei Theilen erschien und begann zugleich das Bibelwerk für
die Gemeinde. Beide verfolgen den Zweck, die Offenbarung mit der moder¬
nen Bildung zu vermitteln, die Kluft zwischen religiösem und geschichtlichem
Sinn, zwischen kirchlichem und wissenschaftlichem Gewissen zu überbrücken, indem
der Buchstabenglaube aufgehoben und doch der Beweis versucht wird, daß
die Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte durch die Anwendung freier
Kritik nicht beeinträchtigt wird. Bunsen hatte schon in Rom und Bonn
beabsichtigt, eine Folge von Bibellectionen herauszugeben, bei näherer Be¬
trachtung aber fand er es nöthig, die ganze Bibel in neuer berichtigter Ueber,
Setzung mit Einleitung und Commentar herauszugeben: sein Zweck war, die
Bibel dem Bewußtsein der Neuzeit wieder aufzuschließen und für das Ge¬
wissen der Menschheit wieder fruchtbar zu machen. Er ging an die Lösung
der Ausgabe mit der festen Ueberzeugung, daß sie möglich und nothwendig
sei; daß sie ihm gelungen, läßt sich schwerlich bejahen, zumal ihm nicht ein¬
mal vergönnt war, das Werk zu vollenden; daß es jedenfalls anregend gewirkt
hat, wird schon durch die Dssaxs ana lieviews bewiesen.

Am politischen Treiben nahm Bunsen während dieser Jahre wissenschaft¬
licher Thätigkeit wenig Antheil. Nur einmal trat er aus seiner Zurückge¬
zogenheit heraus als der König ihn dringend einlud, als sein Gast nach
Berlin zu kommen, um der evangelischen Allianz beizuwohnen; dort sahen sich
Beide noch einmal. Unmittelbar darauf erkrankte Friedrich Wilhelm, sein
letzter Regierungsact war die Erhebung Bunsen's ins Herrenhaus, in welchem
derselbe zu Beginn der Regentschaft seinen Platz einmal einnahm. Lebhaft
verfolgte er die heranziehende Verwickelung in Italien; mit dem richtigen
Jnstinct, den er so oft für anscheinend fernliegende Dinge zeigte, hatte er
schon 18S6 nach dem pariser Congreß an Cobden geschrieben: „Ich freue
wich, daß ein Schritt in der ersten Richtung gethan ist, durch den Grund¬
satz, den Lord Clarendon vertheidigt hat — Schiedsrichterspruch und Nicht-
intervention. Politisch freilich haben wir nichts gewonnen. Polen und
Italien, die beiden vergifteten Wunden Europas, sind geblieben wie sie
waren und Italien ist jetzt überdies das unvermeidliche Object des nächsten
von Louis Napoleon beschlossenen Krieges geworden." Jetzt aber, im März
1869 spricht er sich bestimmter aus: „Meine Ansicht ist unverändert — die
östreichische Herrschaft in Italien und die militärische Occupation sowie die
fortwährende Einmischung, in Staaten, die ihm nicht gehören, geht Deutsch¬
land nichts an und je eher dieser Gräuel aufhört, desto besser für Oestreich
selbst. England und Deutschland sind stark genug um zu hindern, daß Italien
eine französische Provinz werde. Vetter Michel ist von Tollheit ergriffen
Nach dem jahrelangen Vergiftungsproceß durch östreichische und ultramontane
Unwahrheiten. Ist nicht von allen Seiten während 36 Jahren Alles auf<


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[0525] Geschichte" in drei Theilen erschien und begann zugleich das Bibelwerk für die Gemeinde. Beide verfolgen den Zweck, die Offenbarung mit der moder¬ nen Bildung zu vermitteln, die Kluft zwischen religiösem und geschichtlichem Sinn, zwischen kirchlichem und wissenschaftlichem Gewissen zu überbrücken, indem der Buchstabenglaube aufgehoben und doch der Beweis versucht wird, daß die Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte durch die Anwendung freier Kritik nicht beeinträchtigt wird. Bunsen hatte schon in Rom und Bonn beabsichtigt, eine Folge von Bibellectionen herauszugeben, bei näherer Be¬ trachtung aber fand er es nöthig, die ganze Bibel in neuer berichtigter Ueber, Setzung mit Einleitung und Commentar herauszugeben: sein Zweck war, die Bibel dem Bewußtsein der Neuzeit wieder aufzuschließen und für das Ge¬ wissen der Menschheit wieder fruchtbar zu machen. Er ging an die Lösung der Ausgabe mit der festen Ueberzeugung, daß sie möglich und nothwendig sei; daß sie ihm gelungen, läßt sich schwerlich bejahen, zumal ihm nicht ein¬ mal vergönnt war, das Werk zu vollenden; daß es jedenfalls anregend gewirkt hat, wird schon durch die Dssaxs ana lieviews bewiesen. Am politischen Treiben nahm Bunsen während dieser Jahre wissenschaft¬ licher Thätigkeit wenig Antheil. Nur einmal trat er aus seiner Zurückge¬ zogenheit heraus als der König ihn dringend einlud, als sein Gast nach Berlin zu kommen, um der evangelischen Allianz beizuwohnen; dort sahen sich Beide noch einmal. Unmittelbar darauf erkrankte Friedrich Wilhelm, sein letzter Regierungsact war die Erhebung Bunsen's ins Herrenhaus, in welchem derselbe zu Beginn der Regentschaft seinen Platz einmal einnahm. Lebhaft verfolgte er die heranziehende Verwickelung in Italien; mit dem richtigen Jnstinct, den er so oft für anscheinend fernliegende Dinge zeigte, hatte er schon 18S6 nach dem pariser Congreß an Cobden geschrieben: „Ich freue wich, daß ein Schritt in der ersten Richtung gethan ist, durch den Grund¬ satz, den Lord Clarendon vertheidigt hat — Schiedsrichterspruch und Nicht- intervention. Politisch freilich haben wir nichts gewonnen. Polen und Italien, die beiden vergifteten Wunden Europas, sind geblieben wie sie waren und Italien ist jetzt überdies das unvermeidliche Object des nächsten von Louis Napoleon beschlossenen Krieges geworden." Jetzt aber, im März 1869 spricht er sich bestimmter aus: „Meine Ansicht ist unverändert — die östreichische Herrschaft in Italien und die militärische Occupation sowie die fortwährende Einmischung, in Staaten, die ihm nicht gehören, geht Deutsch¬ land nichts an und je eher dieser Gräuel aufhört, desto besser für Oestreich selbst. England und Deutschland sind stark genug um zu hindern, daß Italien eine französische Provinz werde. Vetter Michel ist von Tollheit ergriffen Nach dem jahrelangen Vergiftungsproceß durch östreichische und ultramontane Unwahrheiten. Ist nicht von allen Seiten während 36 Jahren Alles auf< 62*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/525>, abgerufen am 04.07.2024.