Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

Bild:
<< vorherige Seite

eines Deutschen so viel Gewicht haben sollte wie diejenigen von zehn oder
zwanzig Polen. Nirgends mehr als hier, etwa die Ostseeprovinzen Ru߬
lands ausgenommen, ist es erforderlich, die Stimmen zu wägen, anstatt zu
zählen. Auf einer Seite im Posenschen, von Westpreußen zu geschweige",
steht die größere Masse der besitzlosen Landbevölkerung, die katholische Geist¬
lichkeit, etwa die Hälfte der Bauern und der großen Gutsbesitzer und endlich
etwa ein Viertel des städtischen Kleinbürgerthums, auf der anderen der
kleinere Theil des besitzlosen Landvolks, die andere Hälfte der Bauern und
der größeren Gutsbesitzer; vor Allem sind die Städte ganz oder fast ganz
deutsch, in ihnen besonders der gesammte höhere Bürgerstand mit Einschluß der
Beamten, Gelehrten ze., kurz die Träger der materiellen, wie der Geistescultur.

Wir müssen immer wieder auf diese Sachlage aufmerksam machen, da
man in entfernteren Gegenden Deutschlands aus mancherlei Erscheinungen
auf eine fortdauernde Ueberlegenheit des polnischen Elements zu schließen ge¬
neigt sein könnte; so namentlich aus dem Ueberwiegen der polnischen Volks¬
vertreter Posens auf dem preußischen Landtage und dem norddeutschen Reichs¬
tage, aus mancherlei polnisch-nationalen Kundgebungen, während von deut¬
scher Seite nur höchst selten solche zu Tage kommen, vor Allem aus dem
nach den bisherigen Zählungen noch immer für die Polen sehr günstigen
Verhältniß der Zugehörigen zu der einen und der anderen Sprache.

Im Jahre 1861 wurden in der Provinz Posen 619,936 Deutsche mit
Einschluß der Juden und 783,692 Polen, in Westpreußen 774,285 Deutsche
und 346.07S Polen und Kassuben gezählt. Auch im letzten Winter ist wieder
eine Zählung der Bewohner nach ihrer Sprache veranstaltet worden, deren
Ergebniß noch nicht veröffentlicht worden ist. Ob es eine erhebliche verhält¬
nißmäßige Vermehrung der Deutschsprechenden in beiden Provinzen ergeben
wird, steht dahin. Wenn wir nach unserer Beobachtung dennoch ein stetiges
bedeutendes Vorschreiten der Germanisirung behaupten, so halten wir es also
wenigstens für unsicher, ob sich dieselbe auch in den Zahlen der statistischen
Aufnahmen, besonders in Posen, bemerklich machen wird. Die Gründe, welche
uns zu dieser Annahme veranlassen, sind folgende. Die deutsche Sprache, als
Verständigungsmittel in der Familie -- nach diesem Kennzeichen werden bei
der statistischen Aufnahme die einzelnen Personen der einen oder der anderen
Sprache zugetheilt -- kann sich vorzugsweise auf dreierlei Weise weiter ver¬
breiten: 1) durch stärkere natürliche Vermehrung, 2) durch Einwanderung
von Deutschen oder Auswanderung von Polen, 3) durch Annahme der deut¬
schen Sprache anstatt der polnischen. Die natürliche Vermehrung der Deut¬
schen im Posenschen ist nun zwar etwas größer, als diejenige der Polen,
vorzugsweise weil diesen wegen schlechterer Verpflegung mehr Kinder sterben,
als jenen, sie ist aber doch nicht so bedeutend, um andere Verluste zu decken


eines Deutschen so viel Gewicht haben sollte wie diejenigen von zehn oder
zwanzig Polen. Nirgends mehr als hier, etwa die Ostseeprovinzen Ru߬
lands ausgenommen, ist es erforderlich, die Stimmen zu wägen, anstatt zu
zählen. Auf einer Seite im Posenschen, von Westpreußen zu geschweige»,
steht die größere Masse der besitzlosen Landbevölkerung, die katholische Geist¬
lichkeit, etwa die Hälfte der Bauern und der großen Gutsbesitzer und endlich
etwa ein Viertel des städtischen Kleinbürgerthums, auf der anderen der
kleinere Theil des besitzlosen Landvolks, die andere Hälfte der Bauern und
der größeren Gutsbesitzer; vor Allem sind die Städte ganz oder fast ganz
deutsch, in ihnen besonders der gesammte höhere Bürgerstand mit Einschluß der
Beamten, Gelehrten ze., kurz die Träger der materiellen, wie der Geistescultur.

Wir müssen immer wieder auf diese Sachlage aufmerksam machen, da
man in entfernteren Gegenden Deutschlands aus mancherlei Erscheinungen
auf eine fortdauernde Ueberlegenheit des polnischen Elements zu schließen ge¬
neigt sein könnte; so namentlich aus dem Ueberwiegen der polnischen Volks¬
vertreter Posens auf dem preußischen Landtage und dem norddeutschen Reichs¬
tage, aus mancherlei polnisch-nationalen Kundgebungen, während von deut¬
scher Seite nur höchst selten solche zu Tage kommen, vor Allem aus dem
nach den bisherigen Zählungen noch immer für die Polen sehr günstigen
Verhältniß der Zugehörigen zu der einen und der anderen Sprache.

Im Jahre 1861 wurden in der Provinz Posen 619,936 Deutsche mit
Einschluß der Juden und 783,692 Polen, in Westpreußen 774,285 Deutsche
und 346.07S Polen und Kassuben gezählt. Auch im letzten Winter ist wieder
eine Zählung der Bewohner nach ihrer Sprache veranstaltet worden, deren
Ergebniß noch nicht veröffentlicht worden ist. Ob es eine erhebliche verhält¬
nißmäßige Vermehrung der Deutschsprechenden in beiden Provinzen ergeben
wird, steht dahin. Wenn wir nach unserer Beobachtung dennoch ein stetiges
bedeutendes Vorschreiten der Germanisirung behaupten, so halten wir es also
wenigstens für unsicher, ob sich dieselbe auch in den Zahlen der statistischen
Aufnahmen, besonders in Posen, bemerklich machen wird. Die Gründe, welche
uns zu dieser Annahme veranlassen, sind folgende. Die deutsche Sprache, als
Verständigungsmittel in der Familie — nach diesem Kennzeichen werden bei
der statistischen Aufnahme die einzelnen Personen der einen oder der anderen
Sprache zugetheilt — kann sich vorzugsweise auf dreierlei Weise weiter ver¬
breiten: 1) durch stärkere natürliche Vermehrung, 2) durch Einwanderung
von Deutschen oder Auswanderung von Polen, 3) durch Annahme der deut¬
schen Sprache anstatt der polnischen. Die natürliche Vermehrung der Deut¬
schen im Posenschen ist nun zwar etwas größer, als diejenige der Polen,
vorzugsweise weil diesen wegen schlechterer Verpflegung mehr Kinder sterben,
als jenen, sie ist aber doch nicht so bedeutend, um andere Verluste zu decken


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0464" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287176"/>
          <p xml:id="ID_1188" prev="#ID_1187"> eines Deutschen so viel Gewicht haben sollte wie diejenigen von zehn oder<lb/>
zwanzig Polen. Nirgends mehr als hier, etwa die Ostseeprovinzen Ru߬<lb/>
lands ausgenommen, ist es erforderlich, die Stimmen zu wägen, anstatt zu<lb/>
zählen. Auf einer Seite im Posenschen, von Westpreußen zu geschweige»,<lb/>
steht die größere Masse der besitzlosen Landbevölkerung, die katholische Geist¬<lb/>
lichkeit, etwa die Hälfte der Bauern und der großen Gutsbesitzer und endlich<lb/>
etwa ein Viertel des städtischen Kleinbürgerthums, auf der anderen der<lb/>
kleinere Theil des besitzlosen Landvolks, die andere Hälfte der Bauern und<lb/>
der größeren Gutsbesitzer; vor Allem sind die Städte ganz oder fast ganz<lb/>
deutsch, in ihnen besonders der gesammte höhere Bürgerstand mit Einschluß der<lb/>
Beamten, Gelehrten ze., kurz die Träger der materiellen, wie der Geistescultur.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1189"> Wir müssen immer wieder auf diese Sachlage aufmerksam machen, da<lb/>
man in entfernteren Gegenden Deutschlands aus mancherlei Erscheinungen<lb/>
auf eine fortdauernde Ueberlegenheit des polnischen Elements zu schließen ge¬<lb/>
neigt sein könnte; so namentlich aus dem Ueberwiegen der polnischen Volks¬<lb/>
vertreter Posens auf dem preußischen Landtage und dem norddeutschen Reichs¬<lb/>
tage, aus mancherlei polnisch-nationalen Kundgebungen, während von deut¬<lb/>
scher Seite nur höchst selten solche zu Tage kommen, vor Allem aus dem<lb/>
nach den bisherigen Zählungen noch immer für die Polen sehr günstigen<lb/>
Verhältniß der Zugehörigen zu der einen und der anderen Sprache.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1190" next="#ID_1191"> Im Jahre 1861 wurden in der Provinz Posen 619,936 Deutsche mit<lb/>
Einschluß der Juden und 783,692 Polen, in Westpreußen 774,285 Deutsche<lb/>
und 346.07S Polen und Kassuben gezählt. Auch im letzten Winter ist wieder<lb/>
eine Zählung der Bewohner nach ihrer Sprache veranstaltet worden, deren<lb/>
Ergebniß noch nicht veröffentlicht worden ist. Ob es eine erhebliche verhält¬<lb/>
nißmäßige Vermehrung der Deutschsprechenden in beiden Provinzen ergeben<lb/>
wird, steht dahin. Wenn wir nach unserer Beobachtung dennoch ein stetiges<lb/>
bedeutendes Vorschreiten der Germanisirung behaupten, so halten wir es also<lb/>
wenigstens für unsicher, ob sich dieselbe auch in den Zahlen der statistischen<lb/>
Aufnahmen, besonders in Posen, bemerklich machen wird. Die Gründe, welche<lb/>
uns zu dieser Annahme veranlassen, sind folgende. Die deutsche Sprache, als<lb/>
Verständigungsmittel in der Familie &#x2014; nach diesem Kennzeichen werden bei<lb/>
der statistischen Aufnahme die einzelnen Personen der einen oder der anderen<lb/>
Sprache zugetheilt &#x2014; kann sich vorzugsweise auf dreierlei Weise weiter ver¬<lb/>
breiten: 1) durch stärkere natürliche Vermehrung, 2) durch Einwanderung<lb/>
von Deutschen oder Auswanderung von Polen, 3) durch Annahme der deut¬<lb/>
schen Sprache anstatt der polnischen. Die natürliche Vermehrung der Deut¬<lb/>
schen im Posenschen ist nun zwar etwas größer, als diejenige der Polen,<lb/>
vorzugsweise weil diesen wegen schlechterer Verpflegung mehr Kinder sterben,<lb/>
als jenen, sie ist aber doch nicht so bedeutend, um andere Verluste zu decken</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0464] eines Deutschen so viel Gewicht haben sollte wie diejenigen von zehn oder zwanzig Polen. Nirgends mehr als hier, etwa die Ostseeprovinzen Ru߬ lands ausgenommen, ist es erforderlich, die Stimmen zu wägen, anstatt zu zählen. Auf einer Seite im Posenschen, von Westpreußen zu geschweige», steht die größere Masse der besitzlosen Landbevölkerung, die katholische Geist¬ lichkeit, etwa die Hälfte der Bauern und der großen Gutsbesitzer und endlich etwa ein Viertel des städtischen Kleinbürgerthums, auf der anderen der kleinere Theil des besitzlosen Landvolks, die andere Hälfte der Bauern und der größeren Gutsbesitzer; vor Allem sind die Städte ganz oder fast ganz deutsch, in ihnen besonders der gesammte höhere Bürgerstand mit Einschluß der Beamten, Gelehrten ze., kurz die Träger der materiellen, wie der Geistescultur. Wir müssen immer wieder auf diese Sachlage aufmerksam machen, da man in entfernteren Gegenden Deutschlands aus mancherlei Erscheinungen auf eine fortdauernde Ueberlegenheit des polnischen Elements zu schließen ge¬ neigt sein könnte; so namentlich aus dem Ueberwiegen der polnischen Volks¬ vertreter Posens auf dem preußischen Landtage und dem norddeutschen Reichs¬ tage, aus mancherlei polnisch-nationalen Kundgebungen, während von deut¬ scher Seite nur höchst selten solche zu Tage kommen, vor Allem aus dem nach den bisherigen Zählungen noch immer für die Polen sehr günstigen Verhältniß der Zugehörigen zu der einen und der anderen Sprache. Im Jahre 1861 wurden in der Provinz Posen 619,936 Deutsche mit Einschluß der Juden und 783,692 Polen, in Westpreußen 774,285 Deutsche und 346.07S Polen und Kassuben gezählt. Auch im letzten Winter ist wieder eine Zählung der Bewohner nach ihrer Sprache veranstaltet worden, deren Ergebniß noch nicht veröffentlicht worden ist. Ob es eine erhebliche verhält¬ nißmäßige Vermehrung der Deutschsprechenden in beiden Provinzen ergeben wird, steht dahin. Wenn wir nach unserer Beobachtung dennoch ein stetiges bedeutendes Vorschreiten der Germanisirung behaupten, so halten wir es also wenigstens für unsicher, ob sich dieselbe auch in den Zahlen der statistischen Aufnahmen, besonders in Posen, bemerklich machen wird. Die Gründe, welche uns zu dieser Annahme veranlassen, sind folgende. Die deutsche Sprache, als Verständigungsmittel in der Familie — nach diesem Kennzeichen werden bei der statistischen Aufnahme die einzelnen Personen der einen oder der anderen Sprache zugetheilt — kann sich vorzugsweise auf dreierlei Weise weiter ver¬ breiten: 1) durch stärkere natürliche Vermehrung, 2) durch Einwanderung von Deutschen oder Auswanderung von Polen, 3) durch Annahme der deut¬ schen Sprache anstatt der polnischen. Die natürliche Vermehrung der Deut¬ schen im Posenschen ist nun zwar etwas größer, als diejenige der Polen, vorzugsweise weil diesen wegen schlechterer Verpflegung mehr Kinder sterben, als jenen, sie ist aber doch nicht so bedeutend, um andere Verluste zu decken

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/464
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/464>, abgerufen am 02.10.2024.