Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sie von ihren Stammesgenossen in Westpreußen abschneiden, daß diese wiederum
nicht nur durch den Netzdistrict von den Großpolen getrennt sind, sondern
daß auch ihr Gebiet durch einen Streifen deutschen Bodens längs der Weichsel
in sich zerschnitten ist, endlich daß die Polen im Osten dieses Stromes wiederum
getheilt sind in eine Sprachinsel nördlich von Marienwerder und die große
Fläche des Kulmerlandes, welches mit dem ostpreußischen Masuren und dem
russisch-polnischen Masovien in Zusammenhang steht. Von dieser Zerthei-
lung abgesehen sind nun aber die größeren und kleineren Stücke polnischen
Sprachgebietes in sich noch keineswegs geschlossen, sondern in hohem Grade
zerrissen. Das extremste Beispiel dieses Zustandes bietet Westpreußen; dort
sindet sich kaum eine Stelle, wo man mit einer Meile im Zirkel einen Kreis
schlagen kann, ohne deutschen Boden mit einzuschließen. Wie von Bohr-
Türmern zernagte Schiffsplanken nimmt sich die Karte aus. Aehnlich auch
das vorherrschend polnische Stück von Posen, dessen etwas nach Westen ge¬
rückter Mittelpunkt die Hauptstadt der Provinz ist, nur mit größerem Ma߬
stabe gemessen. Am häufigsten, tiefsten und mannigfaltigsten sind zwar die
Einschnitte, Buchten und Inseln an der Grenze beider Gebiete; die deutschen
Sprachinseln von sehr verschiedener Größe, Gestalt und Abstufung der Sprach¬
vermischung fehlen aber nirgends; sie nehmen gegen Osten im Allgemeinen zwar
ab, finden sich jedoch noch bis zur russischen Grenze, ja über diese hinaus.

Herr Kinkel will nun die Grenzen Polens vor 1772 nicht wieder herge¬
stellt haben, was schon recht löblich von ihm ist; dennoch aber soll nach
seinem Vorschlage "Polen da anfangen, wo polnisch gesprochen wird" und
"in den Grenzdistricten in freier Weise hiernach abgestimmt werden/' Wo
^ird, so fragen wir nun aber, polnisch gesprochen, so daß dort "Polen an¬
fangen" müßte? Welches sind die "Grenzdistricte", in denen abgestimmt
werden sollte? Wie soll es mit den Sprachinseln hüben und drüben gehalten
werden? Es bliebe wohl kaum etwas Anderes übrig, wenn auch die slavischen
Sprachinseln Westpreußens, in welchen die Germanisirung nach der polnischen
"Thorner Zeitung" sogar in den Aoelssamilien selbst festen Fuß gefaßt hat,
^stgehalten würden, als in dem ganzen Kulmerlande und in dem größten Theile
der Provinz Posen abzustimmen und von den Zufälligkeiten und Unzurechen-
barkeiten einer solchen Massenkundgebung das Schicksal der Festung und
wichtigen Handelsstadt Posen mit ihrer weiten Umgebung abhängig zu machen,
^le Hunderttausende von Deutschen aber, welche in diesen Landstrichen wohnen,
'in Falle daß sie überstimmt würden, den Polen zu überliefern, damit diese
^it ihnen ihre nationalen Experimente vornahmen. Wir aber fragen, ob es
einer großen und nun doch auch mächtigen Nation würdig ist, auch nur ein
Dorf mit ihren Stammgenossen an einen fremden Staat abzutreten?

Wir könnten uns die Abstimmung noch gefallen lassen, wenn die Stimme


Grenzboten III. 1868. 55

sie von ihren Stammesgenossen in Westpreußen abschneiden, daß diese wiederum
nicht nur durch den Netzdistrict von den Großpolen getrennt sind, sondern
daß auch ihr Gebiet durch einen Streifen deutschen Bodens längs der Weichsel
in sich zerschnitten ist, endlich daß die Polen im Osten dieses Stromes wiederum
getheilt sind in eine Sprachinsel nördlich von Marienwerder und die große
Fläche des Kulmerlandes, welches mit dem ostpreußischen Masuren und dem
russisch-polnischen Masovien in Zusammenhang steht. Von dieser Zerthei-
lung abgesehen sind nun aber die größeren und kleineren Stücke polnischen
Sprachgebietes in sich noch keineswegs geschlossen, sondern in hohem Grade
zerrissen. Das extremste Beispiel dieses Zustandes bietet Westpreußen; dort
sindet sich kaum eine Stelle, wo man mit einer Meile im Zirkel einen Kreis
schlagen kann, ohne deutschen Boden mit einzuschließen. Wie von Bohr-
Türmern zernagte Schiffsplanken nimmt sich die Karte aus. Aehnlich auch
das vorherrschend polnische Stück von Posen, dessen etwas nach Westen ge¬
rückter Mittelpunkt die Hauptstadt der Provinz ist, nur mit größerem Ma߬
stabe gemessen. Am häufigsten, tiefsten und mannigfaltigsten sind zwar die
Einschnitte, Buchten und Inseln an der Grenze beider Gebiete; die deutschen
Sprachinseln von sehr verschiedener Größe, Gestalt und Abstufung der Sprach¬
vermischung fehlen aber nirgends; sie nehmen gegen Osten im Allgemeinen zwar
ab, finden sich jedoch noch bis zur russischen Grenze, ja über diese hinaus.

Herr Kinkel will nun die Grenzen Polens vor 1772 nicht wieder herge¬
stellt haben, was schon recht löblich von ihm ist; dennoch aber soll nach
seinem Vorschlage „Polen da anfangen, wo polnisch gesprochen wird" und
»in den Grenzdistricten in freier Weise hiernach abgestimmt werden/' Wo
^ird, so fragen wir nun aber, polnisch gesprochen, so daß dort „Polen an¬
fangen" müßte? Welches sind die „Grenzdistricte", in denen abgestimmt
werden sollte? Wie soll es mit den Sprachinseln hüben und drüben gehalten
werden? Es bliebe wohl kaum etwas Anderes übrig, wenn auch die slavischen
Sprachinseln Westpreußens, in welchen die Germanisirung nach der polnischen
»Thorner Zeitung" sogar in den Aoelssamilien selbst festen Fuß gefaßt hat,
^stgehalten würden, als in dem ganzen Kulmerlande und in dem größten Theile
der Provinz Posen abzustimmen und von den Zufälligkeiten und Unzurechen-
barkeiten einer solchen Massenkundgebung das Schicksal der Festung und
wichtigen Handelsstadt Posen mit ihrer weiten Umgebung abhängig zu machen,
^le Hunderttausende von Deutschen aber, welche in diesen Landstrichen wohnen,
'in Falle daß sie überstimmt würden, den Polen zu überliefern, damit diese
^it ihnen ihre nationalen Experimente vornahmen. Wir aber fragen, ob es
einer großen und nun doch auch mächtigen Nation würdig ist, auch nur ein
Dorf mit ihren Stammgenossen an einen fremden Staat abzutreten?

Wir könnten uns die Abstimmung noch gefallen lassen, wenn die Stimme


Grenzboten III. 1868. 55
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0463" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287175"/>
          <p xml:id="ID_1185" prev="#ID_1184"> sie von ihren Stammesgenossen in Westpreußen abschneiden, daß diese wiederum<lb/>
nicht nur durch den Netzdistrict von den Großpolen getrennt sind, sondern<lb/>
daß auch ihr Gebiet durch einen Streifen deutschen Bodens längs der Weichsel<lb/>
in sich zerschnitten ist, endlich daß die Polen im Osten dieses Stromes wiederum<lb/>
getheilt sind in eine Sprachinsel nördlich von Marienwerder und die große<lb/>
Fläche des Kulmerlandes, welches mit dem ostpreußischen Masuren und dem<lb/>
russisch-polnischen Masovien in Zusammenhang steht. Von dieser Zerthei-<lb/>
lung abgesehen sind nun aber die größeren und kleineren Stücke polnischen<lb/>
Sprachgebietes in sich noch keineswegs geschlossen, sondern in hohem Grade<lb/>
zerrissen. Das extremste Beispiel dieses Zustandes bietet Westpreußen; dort<lb/>
sindet sich kaum eine Stelle, wo man mit einer Meile im Zirkel einen Kreis<lb/>
schlagen kann, ohne deutschen Boden mit einzuschließen. Wie von Bohr-<lb/>
Türmern zernagte Schiffsplanken nimmt sich die Karte aus. Aehnlich auch<lb/>
das vorherrschend polnische Stück von Posen, dessen etwas nach Westen ge¬<lb/>
rückter Mittelpunkt die Hauptstadt der Provinz ist, nur mit größerem Ma߬<lb/>
stabe gemessen. Am häufigsten, tiefsten und mannigfaltigsten sind zwar die<lb/>
Einschnitte, Buchten und Inseln an der Grenze beider Gebiete; die deutschen<lb/>
Sprachinseln von sehr verschiedener Größe, Gestalt und Abstufung der Sprach¬<lb/>
vermischung fehlen aber nirgends; sie nehmen gegen Osten im Allgemeinen zwar<lb/>
ab, finden sich jedoch noch bis zur russischen Grenze, ja über diese hinaus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1186"> Herr Kinkel will nun die Grenzen Polens vor 1772 nicht wieder herge¬<lb/>
stellt haben, was schon recht löblich von ihm ist; dennoch aber soll nach<lb/>
seinem Vorschlage &#x201E;Polen da anfangen, wo polnisch gesprochen wird" und<lb/>
»in den Grenzdistricten in freier Weise hiernach abgestimmt werden/' Wo<lb/>
^ird, so fragen wir nun aber, polnisch gesprochen, so daß dort &#x201E;Polen an¬<lb/>
fangen" müßte? Welches sind die &#x201E;Grenzdistricte", in denen abgestimmt<lb/>
werden sollte? Wie soll es mit den Sprachinseln hüben und drüben gehalten<lb/>
werden? Es bliebe wohl kaum etwas Anderes übrig, wenn auch die slavischen<lb/>
Sprachinseln Westpreußens, in welchen die Germanisirung nach der polnischen<lb/>
»Thorner Zeitung" sogar in den Aoelssamilien selbst festen Fuß gefaßt hat,<lb/>
^stgehalten würden, als in dem ganzen Kulmerlande und in dem größten Theile<lb/>
der Provinz Posen abzustimmen und von den Zufälligkeiten und Unzurechen-<lb/>
barkeiten einer solchen Massenkundgebung das Schicksal der Festung und<lb/>
wichtigen Handelsstadt Posen mit ihrer weiten Umgebung abhängig zu machen,<lb/>
^le Hunderttausende von Deutschen aber, welche in diesen Landstrichen wohnen,<lb/>
'in Falle daß sie überstimmt würden, den Polen zu überliefern, damit diese<lb/>
^it ihnen ihre nationalen Experimente vornahmen. Wir aber fragen, ob es<lb/>
einer großen und nun doch auch mächtigen Nation würdig ist, auch nur ein<lb/>
Dorf mit ihren Stammgenossen an einen fremden Staat abzutreten?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1187" next="#ID_1188"> Wir könnten uns die Abstimmung noch gefallen lassen, wenn die Stimme</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1868. 55</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0463] sie von ihren Stammesgenossen in Westpreußen abschneiden, daß diese wiederum nicht nur durch den Netzdistrict von den Großpolen getrennt sind, sondern daß auch ihr Gebiet durch einen Streifen deutschen Bodens längs der Weichsel in sich zerschnitten ist, endlich daß die Polen im Osten dieses Stromes wiederum getheilt sind in eine Sprachinsel nördlich von Marienwerder und die große Fläche des Kulmerlandes, welches mit dem ostpreußischen Masuren und dem russisch-polnischen Masovien in Zusammenhang steht. Von dieser Zerthei- lung abgesehen sind nun aber die größeren und kleineren Stücke polnischen Sprachgebietes in sich noch keineswegs geschlossen, sondern in hohem Grade zerrissen. Das extremste Beispiel dieses Zustandes bietet Westpreußen; dort sindet sich kaum eine Stelle, wo man mit einer Meile im Zirkel einen Kreis schlagen kann, ohne deutschen Boden mit einzuschließen. Wie von Bohr- Türmern zernagte Schiffsplanken nimmt sich die Karte aus. Aehnlich auch das vorherrschend polnische Stück von Posen, dessen etwas nach Westen ge¬ rückter Mittelpunkt die Hauptstadt der Provinz ist, nur mit größerem Ma߬ stabe gemessen. Am häufigsten, tiefsten und mannigfaltigsten sind zwar die Einschnitte, Buchten und Inseln an der Grenze beider Gebiete; die deutschen Sprachinseln von sehr verschiedener Größe, Gestalt und Abstufung der Sprach¬ vermischung fehlen aber nirgends; sie nehmen gegen Osten im Allgemeinen zwar ab, finden sich jedoch noch bis zur russischen Grenze, ja über diese hinaus. Herr Kinkel will nun die Grenzen Polens vor 1772 nicht wieder herge¬ stellt haben, was schon recht löblich von ihm ist; dennoch aber soll nach seinem Vorschlage „Polen da anfangen, wo polnisch gesprochen wird" und »in den Grenzdistricten in freier Weise hiernach abgestimmt werden/' Wo ^ird, so fragen wir nun aber, polnisch gesprochen, so daß dort „Polen an¬ fangen" müßte? Welches sind die „Grenzdistricte", in denen abgestimmt werden sollte? Wie soll es mit den Sprachinseln hüben und drüben gehalten werden? Es bliebe wohl kaum etwas Anderes übrig, wenn auch die slavischen Sprachinseln Westpreußens, in welchen die Germanisirung nach der polnischen »Thorner Zeitung" sogar in den Aoelssamilien selbst festen Fuß gefaßt hat, ^stgehalten würden, als in dem ganzen Kulmerlande und in dem größten Theile der Provinz Posen abzustimmen und von den Zufälligkeiten und Unzurechen- barkeiten einer solchen Massenkundgebung das Schicksal der Festung und wichtigen Handelsstadt Posen mit ihrer weiten Umgebung abhängig zu machen, ^le Hunderttausende von Deutschen aber, welche in diesen Landstrichen wohnen, 'in Falle daß sie überstimmt würden, den Polen zu überliefern, damit diese ^it ihnen ihre nationalen Experimente vornahmen. Wir aber fragen, ob es einer großen und nun doch auch mächtigen Nation würdig ist, auch nur ein Dorf mit ihren Stammgenossen an einen fremden Staat abzutreten? Wir könnten uns die Abstimmung noch gefallen lassen, wenn die Stimme Grenzboten III. 1868. 55

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/463
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/463>, abgerufen am 04.07.2024.