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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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den gewöhnlichen Haufen derjenigen hervorragte, die ihn, weil er in seinem
negativen Streben, in seinem Hasse und seiner Verbitterung mit ihnen über¬
einzustimmen schien, auch positiv zu den Ihrigen zählen.

Insbesondere aber ist ihm die deutsche Alterthums- und Sprachwissen¬
schaft vielen Dank schuldig. Obgleich auf diesem Gebiete eigentlich nur als
Liebhaber und in den Mußestunden seines wirklichen Berufes thätig, hat er
doch durch eine Reihe scharfsinniger, gedankenreicher und fein empfundener
Leistungen sich den hervorragenden Meistern des Faches ebenbürtig an die
Seite gestellt. Und vielleicht war es gerade der Umstand, daß er als Lieb¬
haber im echten Sinne des Wortes arbeitete, der seiner Thätigkeit eine ge¬
wisse wirksame Frische und populäre Wärme verlieh, welche man so oft an
den Erzeugnissen der zünftigen Gelehrsamkeit vermißt. Seine deutschen Alter¬
thümer im Heliand, seine Untersuchungen über die verschiedenen Recensionen
der Rudolfischen Weltchronik, seine monographischen Beiträge zur Literatur
Fischarts sind nicht blos lesbarer, wärmer und schwungvoller geschrieben als
das meiste Derartige, sondern auch durch gründliche und umfassende Studien
und solide Methode wahre Muster in ihrer Gattung. Auch seine Vor¬
lesungen über die deutsche Nationalliteratur, die sich allmählich zu einer Art
von systematischer Darstellung ihrer Geschichte erweitert haben, verdienen nicht
blos wegen des äußern Erfolges große Beachtung. Denn in Hinsicht auf die¬
sen haben sie, wie ihre dreizehn Auflagen bezeugen, allen ihren zahlreichen
Eoneurrentinnen den Rang abgelaufen und sind so ziemlich tonangebend für
die Mehrzahl der Gebildeten geworden, die bei einer gewissen pietätvollen
Neigung zu den literarischen Schätzen unserer Vergangenheit sich doch nicht
befähigt oder berufen fühlen, in die Gewölbe, in welchen sie verschlossen liegen,
selbst hinabzusteigen. Und da es nun einmal in Deutschland immer mehr
herrschend zu werden scheint, die Literatur blos als Literaturgeschichte gelten
lassen, so wird der Einfluß eines solchen allgemein begehrten Führers,
^ag man mit ihm einverstanden sein oder nicht, als ein wichtiger Factor in
Unserem geistigen Leben in Anschlag gebracht werden müssen. In diesem
Falle wird man wenigstens alle die Bestandtheile des Mlmar'schen Buches
^ gesund und wohlthuend bezeichnen dürfen, in denen es sich auf neutralem
Boden bewegt. Wo die kirchlichen und theilweise auch die politischen Partei-
övctrinen der Gegenwart von selbst außer Spiel bleiben müssen, wie in der
'schäumten Periode der mittelalterlichen Poesie oder auch der Uebergangszeiten
zu der klassischen Epoche des vorigen Jahrhunderts, da ist Vilmar nicht
b!°s ein sachkundiger, gewissenhafter und wohlbelesener Lehrer, sondern auch
^ner. der mit eigenem feinem Verständniß und wirklich poetischem Sinne de-
l>abd gliche Empfindungen bei seinen Schülern hervorzurufen versteht. Wo
freilich der Parteistandpunkt der Gegenwart sich eindrängt, wie durchweg von


den gewöhnlichen Haufen derjenigen hervorragte, die ihn, weil er in seinem
negativen Streben, in seinem Hasse und seiner Verbitterung mit ihnen über¬
einzustimmen schien, auch positiv zu den Ihrigen zählen.

Insbesondere aber ist ihm die deutsche Alterthums- und Sprachwissen¬
schaft vielen Dank schuldig. Obgleich auf diesem Gebiete eigentlich nur als
Liebhaber und in den Mußestunden seines wirklichen Berufes thätig, hat er
doch durch eine Reihe scharfsinniger, gedankenreicher und fein empfundener
Leistungen sich den hervorragenden Meistern des Faches ebenbürtig an die
Seite gestellt. Und vielleicht war es gerade der Umstand, daß er als Lieb¬
haber im echten Sinne des Wortes arbeitete, der seiner Thätigkeit eine ge¬
wisse wirksame Frische und populäre Wärme verlieh, welche man so oft an
den Erzeugnissen der zünftigen Gelehrsamkeit vermißt. Seine deutschen Alter¬
thümer im Heliand, seine Untersuchungen über die verschiedenen Recensionen
der Rudolfischen Weltchronik, seine monographischen Beiträge zur Literatur
Fischarts sind nicht blos lesbarer, wärmer und schwungvoller geschrieben als
das meiste Derartige, sondern auch durch gründliche und umfassende Studien
und solide Methode wahre Muster in ihrer Gattung. Auch seine Vor¬
lesungen über die deutsche Nationalliteratur, die sich allmählich zu einer Art
von systematischer Darstellung ihrer Geschichte erweitert haben, verdienen nicht
blos wegen des äußern Erfolges große Beachtung. Denn in Hinsicht auf die¬
sen haben sie, wie ihre dreizehn Auflagen bezeugen, allen ihren zahlreichen
Eoneurrentinnen den Rang abgelaufen und sind so ziemlich tonangebend für
die Mehrzahl der Gebildeten geworden, die bei einer gewissen pietätvollen
Neigung zu den literarischen Schätzen unserer Vergangenheit sich doch nicht
befähigt oder berufen fühlen, in die Gewölbe, in welchen sie verschlossen liegen,
selbst hinabzusteigen. Und da es nun einmal in Deutschland immer mehr
herrschend zu werden scheint, die Literatur blos als Literaturgeschichte gelten
lassen, so wird der Einfluß eines solchen allgemein begehrten Führers,
^ag man mit ihm einverstanden sein oder nicht, als ein wichtiger Factor in
Unserem geistigen Leben in Anschlag gebracht werden müssen. In diesem
Falle wird man wenigstens alle die Bestandtheile des Mlmar'schen Buches
^ gesund und wohlthuend bezeichnen dürfen, in denen es sich auf neutralem
Boden bewegt. Wo die kirchlichen und theilweise auch die politischen Partei-
övctrinen der Gegenwart von selbst außer Spiel bleiben müssen, wie in der
'schäumten Periode der mittelalterlichen Poesie oder auch der Uebergangszeiten
zu der klassischen Epoche des vorigen Jahrhunderts, da ist Vilmar nicht
b!°s ein sachkundiger, gewissenhafter und wohlbelesener Lehrer, sondern auch
^ner. der mit eigenem feinem Verständniß und wirklich poetischem Sinne de-
l>abd gliche Empfindungen bei seinen Schülern hervorzurufen versteht. Wo
freilich der Parteistandpunkt der Gegenwart sich eindrängt, wie durchweg von


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[0419] den gewöhnlichen Haufen derjenigen hervorragte, die ihn, weil er in seinem negativen Streben, in seinem Hasse und seiner Verbitterung mit ihnen über¬ einzustimmen schien, auch positiv zu den Ihrigen zählen. Insbesondere aber ist ihm die deutsche Alterthums- und Sprachwissen¬ schaft vielen Dank schuldig. Obgleich auf diesem Gebiete eigentlich nur als Liebhaber und in den Mußestunden seines wirklichen Berufes thätig, hat er doch durch eine Reihe scharfsinniger, gedankenreicher und fein empfundener Leistungen sich den hervorragenden Meistern des Faches ebenbürtig an die Seite gestellt. Und vielleicht war es gerade der Umstand, daß er als Lieb¬ haber im echten Sinne des Wortes arbeitete, der seiner Thätigkeit eine ge¬ wisse wirksame Frische und populäre Wärme verlieh, welche man so oft an den Erzeugnissen der zünftigen Gelehrsamkeit vermißt. Seine deutschen Alter¬ thümer im Heliand, seine Untersuchungen über die verschiedenen Recensionen der Rudolfischen Weltchronik, seine monographischen Beiträge zur Literatur Fischarts sind nicht blos lesbarer, wärmer und schwungvoller geschrieben als das meiste Derartige, sondern auch durch gründliche und umfassende Studien und solide Methode wahre Muster in ihrer Gattung. Auch seine Vor¬ lesungen über die deutsche Nationalliteratur, die sich allmählich zu einer Art von systematischer Darstellung ihrer Geschichte erweitert haben, verdienen nicht blos wegen des äußern Erfolges große Beachtung. Denn in Hinsicht auf die¬ sen haben sie, wie ihre dreizehn Auflagen bezeugen, allen ihren zahlreichen Eoneurrentinnen den Rang abgelaufen und sind so ziemlich tonangebend für die Mehrzahl der Gebildeten geworden, die bei einer gewissen pietätvollen Neigung zu den literarischen Schätzen unserer Vergangenheit sich doch nicht befähigt oder berufen fühlen, in die Gewölbe, in welchen sie verschlossen liegen, selbst hinabzusteigen. Und da es nun einmal in Deutschland immer mehr herrschend zu werden scheint, die Literatur blos als Literaturgeschichte gelten lassen, so wird der Einfluß eines solchen allgemein begehrten Führers, ^ag man mit ihm einverstanden sein oder nicht, als ein wichtiger Factor in Unserem geistigen Leben in Anschlag gebracht werden müssen. In diesem Falle wird man wenigstens alle die Bestandtheile des Mlmar'schen Buches ^ gesund und wohlthuend bezeichnen dürfen, in denen es sich auf neutralem Boden bewegt. Wo die kirchlichen und theilweise auch die politischen Partei- övctrinen der Gegenwart von selbst außer Spiel bleiben müssen, wie in der 'schäumten Periode der mittelalterlichen Poesie oder auch der Uebergangszeiten zu der klassischen Epoche des vorigen Jahrhunderts, da ist Vilmar nicht b!°s ein sachkundiger, gewissenhafter und wohlbelesener Lehrer, sondern auch ^ner. der mit eigenem feinem Verständniß und wirklich poetischem Sinne de- l>abd gliche Empfindungen bei seinen Schülern hervorzurufen versteht. Wo freilich der Parteistandpunkt der Gegenwart sich eindrängt, wie durchweg von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/419>, abgerufen am 04.07.2024.