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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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erdrückte jenen. In der attischen Kunst eines Phidias ist der Körper freilich
die Hauptsache, aber die Gewandung wirkt mit ihren großen Zügen energisch
! mit zum Reichthum jener großen Compositionen; etwa wie in der Oper der
^Gesang die Hauptsache ist, aber des Orchesters zur vollen Wirkung bedarf.
Allmählich tritt die Gewandung immer mehr in den Vordergrund, zum Theil
mit prachtvollsten Effect, wie in der fliehenden Niobide des vaticanischen Mu¬
seums; dann geht man noch weiter und lauscht der Wirklichkeit alle kleinen
Faltenmotive ab, um sie im Interesse einer zugleich natürlicheren und präch¬
tigeren Wirkung, häufig mit großem Raffinement zu benutzen. So entstehen
jene reichen Gewandstatuen, welche unsere Museen füllen, in denen jedoch oft
die Figur nur um des Gewandes willen vorhanden zu sein scheint. Oder
wirkt die schlafende Ariadne mit ihrer überreichen Draperie etwa mächtiger
als die einfach noble liegende Frauengestalt vom östlichen Parthenongiebel?
Man mag das tiefe Verständniß des Faltenwurfes und die reiche Pracht
bewundern, nichtsdestoweniger ist eine Nebensache durch allzustarkes Betonen
zur Hauptsache gemacht worden, --

Die mehrfach bereits berührte Neigung für reiche Wirkungen leitet uns
wieder zur Decorationskunst über. Was hierin unter Alexander geleistet
war, ließ sich nicht dem Grade, sondern nur der Masse nach überbieten.
Ein gleichmäßiges Streben nach Prachtentfaltung erfüllt die Gesammtanlagen
ganzer Städte wie die einzelnen Bauwerke. Auch das freie Rhodos folgt
dem Zuge der Zeit, aber mit einer gewissen Tendenz auf das Imposante.
Mehr als hundert Kolosse hatte die Stadt aufzuweisen, darunter den einen
des Chares von Lindos, das Siegeszeichen sür die glücklich überstandene Be¬
lagerung durch Demetrios Poliorketes, eins der sieben Weltwunder. Freilich
war es nicht die Gestalt unserer Bilderbücher, mit gespreizten Beinen und
erhobenem Feuerbecken über dem Hafeneingang stehend; wie der Koloß ge¬
bildet war, wissen wir überhaupt nicht und müssen uns damit begnügen, daß
man ihn wohl überwältigend, aber nicht liebenswürdig fand -- was indes¬
sen auch in der That eine unbillige Forderung sein dürfte. -- Andern Cha¬
rakter trägt diese Art der Kunst in den Residenzen. Ueberall Marmor- und
Metallschmuck an und in den Häusern und Palästen; die Wände werden
immer reicher bemalt, die Mosaikfußböden immer glänzender ausgeziert.
Arge Geschmacklosigkeiten liefen dabei mit unter, wie wenn in Pergamos in
dem sogenannten "ungefegten Saal" die Tafelabfälle, die man doch im ge¬
wöhnlichen Leben möglichst rasch zu beseitigen sucht, sorgsam und mit lau-
' Sehender Kunst in Marmorstiften nachgebildet und auf ewig im Boden be¬
festigt wurden; oder wenn ebenda Tauben auf dem Rande eines Wasser¬
beckens ganz naturalistisch auf dem Fußboden dargestellt wurden -- um be¬
treten zu werden!


erdrückte jenen. In der attischen Kunst eines Phidias ist der Körper freilich
die Hauptsache, aber die Gewandung wirkt mit ihren großen Zügen energisch
! mit zum Reichthum jener großen Compositionen; etwa wie in der Oper der
^Gesang die Hauptsache ist, aber des Orchesters zur vollen Wirkung bedarf.
Allmählich tritt die Gewandung immer mehr in den Vordergrund, zum Theil
mit prachtvollsten Effect, wie in der fliehenden Niobide des vaticanischen Mu¬
seums; dann geht man noch weiter und lauscht der Wirklichkeit alle kleinen
Faltenmotive ab, um sie im Interesse einer zugleich natürlicheren und präch¬
tigeren Wirkung, häufig mit großem Raffinement zu benutzen. So entstehen
jene reichen Gewandstatuen, welche unsere Museen füllen, in denen jedoch oft
die Figur nur um des Gewandes willen vorhanden zu sein scheint. Oder
wirkt die schlafende Ariadne mit ihrer überreichen Draperie etwa mächtiger
als die einfach noble liegende Frauengestalt vom östlichen Parthenongiebel?
Man mag das tiefe Verständniß des Faltenwurfes und die reiche Pracht
bewundern, nichtsdestoweniger ist eine Nebensache durch allzustarkes Betonen
zur Hauptsache gemacht worden, —

Die mehrfach bereits berührte Neigung für reiche Wirkungen leitet uns
wieder zur Decorationskunst über. Was hierin unter Alexander geleistet
war, ließ sich nicht dem Grade, sondern nur der Masse nach überbieten.
Ein gleichmäßiges Streben nach Prachtentfaltung erfüllt die Gesammtanlagen
ganzer Städte wie die einzelnen Bauwerke. Auch das freie Rhodos folgt
dem Zuge der Zeit, aber mit einer gewissen Tendenz auf das Imposante.
Mehr als hundert Kolosse hatte die Stadt aufzuweisen, darunter den einen
des Chares von Lindos, das Siegeszeichen sür die glücklich überstandene Be¬
lagerung durch Demetrios Poliorketes, eins der sieben Weltwunder. Freilich
war es nicht die Gestalt unserer Bilderbücher, mit gespreizten Beinen und
erhobenem Feuerbecken über dem Hafeneingang stehend; wie der Koloß ge¬
bildet war, wissen wir überhaupt nicht und müssen uns damit begnügen, daß
man ihn wohl überwältigend, aber nicht liebenswürdig fand — was indes¬
sen auch in der That eine unbillige Forderung sein dürfte. — Andern Cha¬
rakter trägt diese Art der Kunst in den Residenzen. Ueberall Marmor- und
Metallschmuck an und in den Häusern und Palästen; die Wände werden
immer reicher bemalt, die Mosaikfußböden immer glänzender ausgeziert.
Arge Geschmacklosigkeiten liefen dabei mit unter, wie wenn in Pergamos in
dem sogenannten „ungefegten Saal" die Tafelabfälle, die man doch im ge¬
wöhnlichen Leben möglichst rasch zu beseitigen sucht, sorgsam und mit lau-
' Sehender Kunst in Marmorstiften nachgebildet und auf ewig im Boden be¬
festigt wurden; oder wenn ebenda Tauben auf dem Rande eines Wasser¬
beckens ganz naturalistisch auf dem Fußboden dargestellt wurden — um be¬
treten zu werden!


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[0414] erdrückte jenen. In der attischen Kunst eines Phidias ist der Körper freilich die Hauptsache, aber die Gewandung wirkt mit ihren großen Zügen energisch ! mit zum Reichthum jener großen Compositionen; etwa wie in der Oper der ^Gesang die Hauptsache ist, aber des Orchesters zur vollen Wirkung bedarf. Allmählich tritt die Gewandung immer mehr in den Vordergrund, zum Theil mit prachtvollsten Effect, wie in der fliehenden Niobide des vaticanischen Mu¬ seums; dann geht man noch weiter und lauscht der Wirklichkeit alle kleinen Faltenmotive ab, um sie im Interesse einer zugleich natürlicheren und präch¬ tigeren Wirkung, häufig mit großem Raffinement zu benutzen. So entstehen jene reichen Gewandstatuen, welche unsere Museen füllen, in denen jedoch oft die Figur nur um des Gewandes willen vorhanden zu sein scheint. Oder wirkt die schlafende Ariadne mit ihrer überreichen Draperie etwa mächtiger als die einfach noble liegende Frauengestalt vom östlichen Parthenongiebel? Man mag das tiefe Verständniß des Faltenwurfes und die reiche Pracht bewundern, nichtsdestoweniger ist eine Nebensache durch allzustarkes Betonen zur Hauptsache gemacht worden, — Die mehrfach bereits berührte Neigung für reiche Wirkungen leitet uns wieder zur Decorationskunst über. Was hierin unter Alexander geleistet war, ließ sich nicht dem Grade, sondern nur der Masse nach überbieten. Ein gleichmäßiges Streben nach Prachtentfaltung erfüllt die Gesammtanlagen ganzer Städte wie die einzelnen Bauwerke. Auch das freie Rhodos folgt dem Zuge der Zeit, aber mit einer gewissen Tendenz auf das Imposante. Mehr als hundert Kolosse hatte die Stadt aufzuweisen, darunter den einen des Chares von Lindos, das Siegeszeichen sür die glücklich überstandene Be¬ lagerung durch Demetrios Poliorketes, eins der sieben Weltwunder. Freilich war es nicht die Gestalt unserer Bilderbücher, mit gespreizten Beinen und erhobenem Feuerbecken über dem Hafeneingang stehend; wie der Koloß ge¬ bildet war, wissen wir überhaupt nicht und müssen uns damit begnügen, daß man ihn wohl überwältigend, aber nicht liebenswürdig fand — was indes¬ sen auch in der That eine unbillige Forderung sein dürfte. — Andern Cha¬ rakter trägt diese Art der Kunst in den Residenzen. Ueberall Marmor- und Metallschmuck an und in den Häusern und Palästen; die Wände werden immer reicher bemalt, die Mosaikfußböden immer glänzender ausgeziert. Arge Geschmacklosigkeiten liefen dabei mit unter, wie wenn in Pergamos in dem sogenannten „ungefegten Saal" die Tafelabfälle, die man doch im ge¬ wöhnlichen Leben möglichst rasch zu beseitigen sucht, sorgsam und mit lau- ' Sehender Kunst in Marmorstiften nachgebildet und auf ewig im Boden be¬ festigt wurden; oder wenn ebenda Tauben auf dem Rande eines Wasser¬ beckens ganz naturalistisch auf dem Fußboden dargestellt wurden — um be¬ treten zu werden!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/414>, abgerufen am 04.07.2024.