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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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nisteriums und die Entlassung der halben Armee als bevorstehend angekün¬
digt wird, so stimmen doch alle Urtheile darin überein, daß die Tage der
spanischen Bourbonen gezählt sind, und daß es für die gegenwärtige
Dynastie kein Rettungsmittel mehr gibt, auf welches für die Dauer'
gerechnet werden könnte. Die Ausweisung des Herzogs von Montpensier
scheint ein Mißgriff von folgenschwerer Bedeutung gewesen zu sein und
ist als solcher namentlich von der Königin Christine hart verurtheilt wor¬
den. -- Ob es sich um einen Wechsel der herrschenden Familie oder um die
Verwirklichung der iberischen Idee handeln wird, wenn Jsabella II. das Scepter
aus den Händen legt -- das wissen selbst die Allwissenden unter den
europäischen Conjecturalpolitikern nicht zu sagen. Die eine wie die andere
Eventualität wäre für das übrige Europa ohne eigentliche Bedeutung, denn
feit drei Jahrhunderten zählen die Spanier (die kurze Episode der Erhebung
gegen Napoleon abgerechnet) in der europäischen Politik ebensowenig mit,
wie in der Culturentwickelung unseres Welltheils.

Es ist erst wenige Wochen her, daß die durch eine jahrhundertelange Mi߬
regierung verschuldete Zersetzung der inneren Verhältnisse Spaniens von einem
frivolen pariser Journal auf Rechnung preußischer Umtriebe in der iberischen
Halbinsel gesetzt wurde. Als ob der preußisch-deutsche Staat irgend ein In¬
teresse daran haben könnte, die Ruhe seiner Nachbarn zu stören, ist eine
ähnliche Beschuldigung neuerdings zu wiederholten Malen russisch-moskoviti-
scherseits, d.h. von der Moskaner Zeitung ausgesprochen und behauptet
worden, die Unzufriedenheit und Verstimmung der Ostseeprovinzen Liv-, Eheb¬
und Kurland gegen die russificatorischen Regierungstendenzen werde durch
die deutsche, namentlich die preußische Presse fortwährend und in tenden¬
ziöser Weise genährt, um den " pangermanischen" Gelüsten Bismarck'scher
Politik den Boden zu bereiten. Wie weiland der Lord-Feuerbrand Pal-
merston allenthalben dafür verantwortlich gemacht wurde, wenn die Völker
sich mit ihren Regierungen nicht verständigen konnten, so sieht die philiströse
Beschränktheit seit dem I. 1866 in dem preußischen Premier und norddeut¬
schen Bundeskanzler die treibende Kraft von Allem, was geschieht und nicht
geschieht. In den westlichen Provinzen Rußlands bedarf es einer künstlichen
Nährung des vorhandenen Mißtrauens gegen die von Osten heranrückenden
russificatorischen Tendenzen am wenigsten. Wem vollends bekannt ist, daß der
durch sein Verbot des Gebrauchs der polnischen Sprache selbst der Kreuzzeitung
verdächtig gewordene wilnaer General-Gouverneur Potapow in der russischen
Presse beständig als Polenfreund angegriffen und unpatriotischer Halbheit
beschuldigt wird, der wird um eine Erklärung dafür nicht verlegen sein, daß die
auf westeuropäischer Kulturgrundlage stehenden Theile des russischen Reichs dem
Geschick, nach dem in Polen gewonnenen russischen Maßstab gemessen und zu


nisteriums und die Entlassung der halben Armee als bevorstehend angekün¬
digt wird, so stimmen doch alle Urtheile darin überein, daß die Tage der
spanischen Bourbonen gezählt sind, und daß es für die gegenwärtige
Dynastie kein Rettungsmittel mehr gibt, auf welches für die Dauer'
gerechnet werden könnte. Die Ausweisung des Herzogs von Montpensier
scheint ein Mißgriff von folgenschwerer Bedeutung gewesen zu sein und
ist als solcher namentlich von der Königin Christine hart verurtheilt wor¬
den. — Ob es sich um einen Wechsel der herrschenden Familie oder um die
Verwirklichung der iberischen Idee handeln wird, wenn Jsabella II. das Scepter
aus den Händen legt — das wissen selbst die Allwissenden unter den
europäischen Conjecturalpolitikern nicht zu sagen. Die eine wie die andere
Eventualität wäre für das übrige Europa ohne eigentliche Bedeutung, denn
feit drei Jahrhunderten zählen die Spanier (die kurze Episode der Erhebung
gegen Napoleon abgerechnet) in der europäischen Politik ebensowenig mit,
wie in der Culturentwickelung unseres Welltheils.

Es ist erst wenige Wochen her, daß die durch eine jahrhundertelange Mi߬
regierung verschuldete Zersetzung der inneren Verhältnisse Spaniens von einem
frivolen pariser Journal auf Rechnung preußischer Umtriebe in der iberischen
Halbinsel gesetzt wurde. Als ob der preußisch-deutsche Staat irgend ein In¬
teresse daran haben könnte, die Ruhe seiner Nachbarn zu stören, ist eine
ähnliche Beschuldigung neuerdings zu wiederholten Malen russisch-moskoviti-
scherseits, d.h. von der Moskaner Zeitung ausgesprochen und behauptet
worden, die Unzufriedenheit und Verstimmung der Ostseeprovinzen Liv-, Eheb¬
und Kurland gegen die russificatorischen Regierungstendenzen werde durch
die deutsche, namentlich die preußische Presse fortwährend und in tenden¬
ziöser Weise genährt, um den „ pangermanischen" Gelüsten Bismarck'scher
Politik den Boden zu bereiten. Wie weiland der Lord-Feuerbrand Pal-
merston allenthalben dafür verantwortlich gemacht wurde, wenn die Völker
sich mit ihren Regierungen nicht verständigen konnten, so sieht die philiströse
Beschränktheit seit dem I. 1866 in dem preußischen Premier und norddeut¬
schen Bundeskanzler die treibende Kraft von Allem, was geschieht und nicht
geschieht. In den westlichen Provinzen Rußlands bedarf es einer künstlichen
Nährung des vorhandenen Mißtrauens gegen die von Osten heranrückenden
russificatorischen Tendenzen am wenigsten. Wem vollends bekannt ist, daß der
durch sein Verbot des Gebrauchs der polnischen Sprache selbst der Kreuzzeitung
verdächtig gewordene wilnaer General-Gouverneur Potapow in der russischen
Presse beständig als Polenfreund angegriffen und unpatriotischer Halbheit
beschuldigt wird, der wird um eine Erklärung dafür nicht verlegen sein, daß die
auf westeuropäischer Kulturgrundlage stehenden Theile des russischen Reichs dem
Geschick, nach dem in Polen gewonnenen russischen Maßstab gemessen und zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/382>, abgerufen am 04.07.2024.