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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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selten von jetzt unvordenklichen Alter, um den Verzicht auf Annehmlichkeiten,
wie sie nur eine technisch geschulte Bureaukratie bieten kann, um die Weckung
von Vollkräften, die längst anderweitig in Anspruch genommen sind. Selbst¬
hilfe und Selbstbestimmung in Localangelegenheitm sind den primären Fertig¬
keiten vergleichbar, die sich in der Jugend von selbst, im Alter nur mühsam
lernen. Einmal außer Uebung gekommen sind sie schwer wieder herzustellen,
zumal da, wo die Furcht vor Zurücksinken in feudale Zustände volle Berechti¬
gung hat, aber zugleich jede freie Bewegung hindert, wo der naive Volksin¬
stinkt für eine einfache und natürliche Regelung der Interessen, welche man mit
den Nachbarn gemein hat, verloren gegangen oder doch durch moderne Bil¬
dungseinflüsse gekreuzt ist. Dazu kommt, daß es an Mustern für eine demo¬
kratisch gestaltete Selbstverwaltung beinahe allenthalben fehlt.

Diese inneren Schwierigkeiten sind aber, wie wir fürchten, nicht die
einzigen, mit denen das in Aussicht genommene große Reformwerk zu kämpfen
haben wird. Ueberblicken wir auch nur die preußische Geschichte der letzten
vier Wochen, so möchten wir glauben, das dem nächsten Landtage zu seel-'
lente Horoskop werde überhaupt kein günstiges sein. Die mehr als eigen¬
thümliche Stellung, welche der Staatsanzeiger zu der Usedom'schen Note ein¬
genommen hat, die plötzliche Abberufung Vogel von Falkenstein's, an dessen
Stelle der Herr von Manteuffel getreten ist, die gleichzeitig angekündigte
Reactivirung Savigny's, die unaufhörlich wiederkehrenden Bestätigungs¬
verweigerungen, durch welche die Herren Eulenburg und Muster das Wahl¬
recht der Communen illusorisch zu machen suchen und die der Verstim¬
mung der neuen Provinzen gegen die altpreußische Bureaukratie reich¬
liche Nahrung zuführen, alle diese Umstände haben dazu beigetragen,
das Unbehagen, unter dessen Eindruck das vorige Halbjahr schloß, zu ver¬
schärfen. Daß die dauernde Abwesenheit des Staatskanzlers von den reac-
tionären Elementen vom Bodelschwingh'schen Typus benutzt worden sei, um die
bis jetzt maßgebend gewesenen Einflüsse zu kreuzen, ist die günstigste unter den
Auslegungen, welche zur Erklärung namentlich des Artikels über die Use-
dom'sche Note und die Reactivirung Manteuffels aufgetaucht sind. Von den
übrigen Conjecturen wollen wir schweigen -- schon diese scheint uns unheil¬
voll genug zu sein -- und unheilvoll in mehr als einer Beziehung.

Ein Zusammenhang zwischen der inneren und der auswärtigen Politik
Preußens hat bis jetzt bekanntlich nicht bestanden: daß derselbe auf Unkosten
dieser und zu Gunsten jener hergestellt werden könne, das war bisher kaum
Jemanden in den Sinn gekommen. Und doch hat es den Anschein, als stehe ein
solcher Umschwung vor der Thür und als solle die lähmende Mattherzigkeit der
Diplomaten des ancien rögime, das System von Olmütz und Warschau wie¬
der die Oberhand gewinnen. -- Die schwachherzige Verläugnung der kühnen


selten von jetzt unvordenklichen Alter, um den Verzicht auf Annehmlichkeiten,
wie sie nur eine technisch geschulte Bureaukratie bieten kann, um die Weckung
von Vollkräften, die längst anderweitig in Anspruch genommen sind. Selbst¬
hilfe und Selbstbestimmung in Localangelegenheitm sind den primären Fertig¬
keiten vergleichbar, die sich in der Jugend von selbst, im Alter nur mühsam
lernen. Einmal außer Uebung gekommen sind sie schwer wieder herzustellen,
zumal da, wo die Furcht vor Zurücksinken in feudale Zustände volle Berechti¬
gung hat, aber zugleich jede freie Bewegung hindert, wo der naive Volksin¬
stinkt für eine einfache und natürliche Regelung der Interessen, welche man mit
den Nachbarn gemein hat, verloren gegangen oder doch durch moderne Bil¬
dungseinflüsse gekreuzt ist. Dazu kommt, daß es an Mustern für eine demo¬
kratisch gestaltete Selbstverwaltung beinahe allenthalben fehlt.

Diese inneren Schwierigkeiten sind aber, wie wir fürchten, nicht die
einzigen, mit denen das in Aussicht genommene große Reformwerk zu kämpfen
haben wird. Ueberblicken wir auch nur die preußische Geschichte der letzten
vier Wochen, so möchten wir glauben, das dem nächsten Landtage zu seel-'
lente Horoskop werde überhaupt kein günstiges sein. Die mehr als eigen¬
thümliche Stellung, welche der Staatsanzeiger zu der Usedom'schen Note ein¬
genommen hat, die plötzliche Abberufung Vogel von Falkenstein's, an dessen
Stelle der Herr von Manteuffel getreten ist, die gleichzeitig angekündigte
Reactivirung Savigny's, die unaufhörlich wiederkehrenden Bestätigungs¬
verweigerungen, durch welche die Herren Eulenburg und Muster das Wahl¬
recht der Communen illusorisch zu machen suchen und die der Verstim¬
mung der neuen Provinzen gegen die altpreußische Bureaukratie reich¬
liche Nahrung zuführen, alle diese Umstände haben dazu beigetragen,
das Unbehagen, unter dessen Eindruck das vorige Halbjahr schloß, zu ver¬
schärfen. Daß die dauernde Abwesenheit des Staatskanzlers von den reac-
tionären Elementen vom Bodelschwingh'schen Typus benutzt worden sei, um die
bis jetzt maßgebend gewesenen Einflüsse zu kreuzen, ist die günstigste unter den
Auslegungen, welche zur Erklärung namentlich des Artikels über die Use-
dom'sche Note und die Reactivirung Manteuffels aufgetaucht sind. Von den
übrigen Conjecturen wollen wir schweigen — schon diese scheint uns unheil¬
voll genug zu sein — und unheilvoll in mehr als einer Beziehung.

Ein Zusammenhang zwischen der inneren und der auswärtigen Politik
Preußens hat bis jetzt bekanntlich nicht bestanden: daß derselbe auf Unkosten
dieser und zu Gunsten jener hergestellt werden könne, das war bisher kaum
Jemanden in den Sinn gekommen. Und doch hat es den Anschein, als stehe ein
solcher Umschwung vor der Thür und als solle die lähmende Mattherzigkeit der
Diplomaten des ancien rögime, das System von Olmütz und Warschau wie¬
der die Oberhand gewinnen. — Die schwachherzige Verläugnung der kühnen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/372>, abgerufen am 04.07.2024.