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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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sie nicht durch ein barmherziges "retuse" die Urheber dieser ungeschickten
Mißgeburten verhinderte, sich öffentlich blos zu stellen. Leider zeigen diese
Wahnsinnsproducte, daß jener ästhetischen Behörde ein nöthiger Bestand¬
theil fehlt: der Arzt.

Doch genug des Unliebsamen, Verfehlten. Wir schonen die Kranken
am besten durch Namenlosigkeit, und wenden uns lieber zum Erfreulichen.
Und wer nicht mit vorgefaßten Wunsch zu tadeln, sondern mit Liebe und
Toleranz sehen will, findet namentlich unter den kleinern Bildern (tolles 6s
edevg,1et) des Vortrefflichen soviel, daß wir Nachsicht für die nothwendigen
Lücken unsers Berichts in dieser Beziehung zu erbitten haben.

Bescheiden wir uns vorab mit der höheren Weisheit des Kunstgerichts,
welches Herrn Brion's "Interieur einer protestantischen Bauernfamilie" im
Elsaß mit der Ehrenmedaille und jenem Preise von 4000 Franken gekrönt hat,
welcher aus Mangel an tadellosen Werken nicht einmal alljährlich zur Ver-
theilung kommt. Wir gestehen offen, daß der größere Theil des kunstsinnigen
Publikums diese Entscheidung ebenfalls nicht begriffen. -- Obgleich das Bild
in harmonischer Gruppirung, lebenswahrer Auffassung der Typen, ruhig
kräftigem Farbenton und kühn sicherer Pinselführung unzweifelhaft dem Besten
seiner Gattung anzureihen ist, so ist es darum noch nicht "ron xlus ultra".
Zudem war es eine dankbare und keineswegs schwierige Aufgabe, einen
Hausvater im Kreise seiner schwarz gekleideten Familie darzustellen, da alle
Figuren in Ruhe horchend, gegen die linke Seite gewendet sind, wo die
schwielenharte Hand des ländlichen Patriarchen ehrfürchtig die Blätter des
heiligen Buches umwendet. Leider ist auf den Gesichtern dieser Herzensein¬
fältigen aber wenig von Erhebung, Inbrunst und geistiger Gemeinschaft zu
lesen; sie sind nüchtern gewohnheitsfromm, wohl glaubensfest, aber gefühls¬
stumpf. Auch der Hund, der fast wie ausgestopft mit geschlossenen Augen
neben dem Lehnstuhl des Lesers sitzt, wirkt geradezu wie eine falsche Note
in dieser Scene, in welche nur das naive Erstaunen der Kinder bei den
heiligen Geschichten einiges Leben bringt. Brion's frühere Leistungen z. B. sein
Christus aus dem Meere wandelnd, waren dagegen so frappant, daß wir
zurückblicken müssen, um zu verstehen, wie ihm für dieses, uns ganz kalt
lassende Bild so hohe Ehre zu Theil werden konnte. Herr Firmin-Giraud
hat dagegen mit seiner "Heirath in extremis" einen gücklichen Griff ins
tiefste Leben gethan, welcher den Accord unseres Herzens noch lange nach
vibriren läßt. Er erzählt die alte, ewig neue Geschichte vom Leichtsinn des
Mannes und vom Liebesopfer des Weibes. Hier aber läßt der edle Kopf
des Sterbenden uns eher an eine Verirrung des Herzens, als an ein ge¬
quältes Gewissen glauben, welches Ungesühntes mit in die Ewigkeit hinüber
zu nehmen zittert.


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sie nicht durch ein barmherziges „retuse" die Urheber dieser ungeschickten
Mißgeburten verhinderte, sich öffentlich blos zu stellen. Leider zeigen diese
Wahnsinnsproducte, daß jener ästhetischen Behörde ein nöthiger Bestand¬
theil fehlt: der Arzt.

Doch genug des Unliebsamen, Verfehlten. Wir schonen die Kranken
am besten durch Namenlosigkeit, und wenden uns lieber zum Erfreulichen.
Und wer nicht mit vorgefaßten Wunsch zu tadeln, sondern mit Liebe und
Toleranz sehen will, findet namentlich unter den kleinern Bildern (tolles 6s
edevg,1et) des Vortrefflichen soviel, daß wir Nachsicht für die nothwendigen
Lücken unsers Berichts in dieser Beziehung zu erbitten haben.

Bescheiden wir uns vorab mit der höheren Weisheit des Kunstgerichts,
welches Herrn Brion's „Interieur einer protestantischen Bauernfamilie" im
Elsaß mit der Ehrenmedaille und jenem Preise von 4000 Franken gekrönt hat,
welcher aus Mangel an tadellosen Werken nicht einmal alljährlich zur Ver-
theilung kommt. Wir gestehen offen, daß der größere Theil des kunstsinnigen
Publikums diese Entscheidung ebenfalls nicht begriffen. — Obgleich das Bild
in harmonischer Gruppirung, lebenswahrer Auffassung der Typen, ruhig
kräftigem Farbenton und kühn sicherer Pinselführung unzweifelhaft dem Besten
seiner Gattung anzureihen ist, so ist es darum noch nicht „ron xlus ultra".
Zudem war es eine dankbare und keineswegs schwierige Aufgabe, einen
Hausvater im Kreise seiner schwarz gekleideten Familie darzustellen, da alle
Figuren in Ruhe horchend, gegen die linke Seite gewendet sind, wo die
schwielenharte Hand des ländlichen Patriarchen ehrfürchtig die Blätter des
heiligen Buches umwendet. Leider ist auf den Gesichtern dieser Herzensein¬
fältigen aber wenig von Erhebung, Inbrunst und geistiger Gemeinschaft zu
lesen; sie sind nüchtern gewohnheitsfromm, wohl glaubensfest, aber gefühls¬
stumpf. Auch der Hund, der fast wie ausgestopft mit geschlossenen Augen
neben dem Lehnstuhl des Lesers sitzt, wirkt geradezu wie eine falsche Note
in dieser Scene, in welche nur das naive Erstaunen der Kinder bei den
heiligen Geschichten einiges Leben bringt. Brion's frühere Leistungen z. B. sein
Christus aus dem Meere wandelnd, waren dagegen so frappant, daß wir
zurückblicken müssen, um zu verstehen, wie ihm für dieses, uns ganz kalt
lassende Bild so hohe Ehre zu Theil werden konnte. Herr Firmin-Giraud
hat dagegen mit seiner „Heirath in extremis" einen gücklichen Griff ins
tiefste Leben gethan, welcher den Accord unseres Herzens noch lange nach
vibriren läßt. Er erzählt die alte, ewig neue Geschichte vom Leichtsinn des
Mannes und vom Liebesopfer des Weibes. Hier aber läßt der edle Kopf
des Sterbenden uns eher an eine Verirrung des Herzens, als an ein ge¬
quältes Gewissen glauben, welches Ungesühntes mit in die Ewigkeit hinüber
zu nehmen zittert.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/307>, abgerufen am 04.07.2024.