Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

Bild:
<< vorherige Seite

höfischen Rittergedichten, der Gunst-des Publikums; als aber mit der Mitte
des 13. Jahrhunderts der ritterliche Geist und mit ihm die epische Ritter¬
dichtung zu verfallen anfing, als die Gefühlsschwärmerei, welche das frühe
Mittelalter durchdrang, sich in den Kreuzzügen ausgetobt und abgekühlt
hatte, und an ihre Stelle nüchterne und berechnende Ueberlegung zu treten
begann, da wurden diese kleineren Gedichte, welche sich im Allgemeinen von
jeder Schwärmerei fern halten, und in denen, so zu sagen, der gesunde
Menschenverstand das poetische Element abgibt, entschiedene Lieblinge des
Tages.

Unter allen Verfassern von Dies und Fabliaux ist keiner häusiger ge¬
nannt worden, als der Troveor Rutebeuf, und mit Recht, denn er kann
wegen seiner persönlichen Verhältnisse und wegen der von ihm behandelten
Stoffe als ein Repräsentant der ganzen Klasse angesehen werden.

Rutebeuf dichtete von 1260 bis etwa 1286, also während der letzten
Regierungsjahre des heiligen Ludwig und während der letzten großen An¬
strengungen, welche die christliche Welt machte, das durch die Kreuzzüge im
Orient Eroberte zu behaupten. Der ritterliche schwärmende Geist hatte sich
in den vergangenen sechs Kreuzzügen abgekühlt und begann einer materali-
stischen, nüchtern-verständigen Richtung zu weichen. Es kann also keine
günstigere Periode für die reflectirende Gattung der Poesie, welche unser
Dichter pflegte, gedacht werden.

Rutebeuf gehörte, was seine äußeren Verhältnisse anbetrifft, keineswegs
zu der günstig situirter Minorität, er war vielmehr darauf angewiesen, mit
den Erzeugnissen seiner Muse sein Brot zu erwerben. Die Complaintes oder
Klagen, eine Art von nachrufen an Verstorbene, deren wir eine ziemliche
Anzahl unter seinen uns erhaltenen Werken antreffen, scheinen auf Bestellung
der Hinterbliebenen gefertigt zu sein, gewiß ist, daß der Dichter, wie viele
seiner Berufsgenossen, Hochzeiten und ähnliche Festlichkeiten in den Häusern
reicher Leute aufsuchte. Der Troveor war im 12. und, wenn auch nicht in
den demselben Grade, noch im 13. und 14. Jahrhundert bei jedem fröhlichen
Zusammensein ein gern gesehener Gast. Seine Gesänge und Schwänke mu߬
ten die Pausen der Unterhaltung ausfüllen, und wahrscheinlich brachte er
den Toast auf das Brautpaar, das Geburtstagskind oder den Jubelgreis in
Versen aus. Dafür bezog er dann außer der Bewirthung an der festlichen
Tafel eine Belohnung in Geld, Kleidern oder Lebensmitteln. Die Revenüen
eines Gelegenheitsdichters müssen aber im Allgemeinen nicht besonders glän¬
zend gewesen sein, denn nicht nur bei Rutebeuf. sondern auch bei seinen Ge¬
nossen wiederholen sich herzbrechende Klagen über Armuth und Elend. Rute¬
beuf hatte seinen bedauernswerthen pecuniären Verhältnissen eine Reihe von
Gedichten gewidmet. In einem derselben sagt er


höfischen Rittergedichten, der Gunst-des Publikums; als aber mit der Mitte
des 13. Jahrhunderts der ritterliche Geist und mit ihm die epische Ritter¬
dichtung zu verfallen anfing, als die Gefühlsschwärmerei, welche das frühe
Mittelalter durchdrang, sich in den Kreuzzügen ausgetobt und abgekühlt
hatte, und an ihre Stelle nüchterne und berechnende Ueberlegung zu treten
begann, da wurden diese kleineren Gedichte, welche sich im Allgemeinen von
jeder Schwärmerei fern halten, und in denen, so zu sagen, der gesunde
Menschenverstand das poetische Element abgibt, entschiedene Lieblinge des
Tages.

Unter allen Verfassern von Dies und Fabliaux ist keiner häusiger ge¬
nannt worden, als der Troveor Rutebeuf, und mit Recht, denn er kann
wegen seiner persönlichen Verhältnisse und wegen der von ihm behandelten
Stoffe als ein Repräsentant der ganzen Klasse angesehen werden.

Rutebeuf dichtete von 1260 bis etwa 1286, also während der letzten
Regierungsjahre des heiligen Ludwig und während der letzten großen An¬
strengungen, welche die christliche Welt machte, das durch die Kreuzzüge im
Orient Eroberte zu behaupten. Der ritterliche schwärmende Geist hatte sich
in den vergangenen sechs Kreuzzügen abgekühlt und begann einer materali-
stischen, nüchtern-verständigen Richtung zu weichen. Es kann also keine
günstigere Periode für die reflectirende Gattung der Poesie, welche unser
Dichter pflegte, gedacht werden.

Rutebeuf gehörte, was seine äußeren Verhältnisse anbetrifft, keineswegs
zu der günstig situirter Minorität, er war vielmehr darauf angewiesen, mit
den Erzeugnissen seiner Muse sein Brot zu erwerben. Die Complaintes oder
Klagen, eine Art von nachrufen an Verstorbene, deren wir eine ziemliche
Anzahl unter seinen uns erhaltenen Werken antreffen, scheinen auf Bestellung
der Hinterbliebenen gefertigt zu sein, gewiß ist, daß der Dichter, wie viele
seiner Berufsgenossen, Hochzeiten und ähnliche Festlichkeiten in den Häusern
reicher Leute aufsuchte. Der Troveor war im 12. und, wenn auch nicht in
den demselben Grade, noch im 13. und 14. Jahrhundert bei jedem fröhlichen
Zusammensein ein gern gesehener Gast. Seine Gesänge und Schwänke mu߬
ten die Pausen der Unterhaltung ausfüllen, und wahrscheinlich brachte er
den Toast auf das Brautpaar, das Geburtstagskind oder den Jubelgreis in
Versen aus. Dafür bezog er dann außer der Bewirthung an der festlichen
Tafel eine Belohnung in Geld, Kleidern oder Lebensmitteln. Die Revenüen
eines Gelegenheitsdichters müssen aber im Allgemeinen nicht besonders glän¬
zend gewesen sein, denn nicht nur bei Rutebeuf. sondern auch bei seinen Ge¬
nossen wiederholen sich herzbrechende Klagen über Armuth und Elend. Rute¬
beuf hatte seinen bedauernswerthen pecuniären Verhältnissen eine Reihe von
Gedichten gewidmet. In einem derselben sagt er


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0269" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/286981"/>
          <p xml:id="ID_703" prev="#ID_702"> höfischen Rittergedichten, der Gunst-des Publikums; als aber mit der Mitte<lb/>
des 13. Jahrhunderts der ritterliche Geist und mit ihm die epische Ritter¬<lb/>
dichtung zu verfallen anfing, als die Gefühlsschwärmerei, welche das frühe<lb/>
Mittelalter durchdrang, sich in den Kreuzzügen ausgetobt und abgekühlt<lb/>
hatte, und an ihre Stelle nüchterne und berechnende Ueberlegung zu treten<lb/>
begann, da wurden diese kleineren Gedichte, welche sich im Allgemeinen von<lb/>
jeder Schwärmerei fern halten, und in denen, so zu sagen, der gesunde<lb/>
Menschenverstand das poetische Element abgibt, entschiedene Lieblinge des<lb/>
Tages.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_704"> Unter allen Verfassern von Dies und Fabliaux ist keiner häusiger ge¬<lb/>
nannt worden, als der Troveor Rutebeuf, und mit Recht, denn er kann<lb/>
wegen seiner persönlichen Verhältnisse und wegen der von ihm behandelten<lb/>
Stoffe als ein Repräsentant der ganzen Klasse angesehen werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_705"> Rutebeuf dichtete von 1260 bis etwa 1286, also während der letzten<lb/>
Regierungsjahre des heiligen Ludwig und während der letzten großen An¬<lb/>
strengungen, welche die christliche Welt machte, das durch die Kreuzzüge im<lb/>
Orient Eroberte zu behaupten. Der ritterliche schwärmende Geist hatte sich<lb/>
in den vergangenen sechs Kreuzzügen abgekühlt und begann einer materali-<lb/>
stischen, nüchtern-verständigen Richtung zu weichen. Es kann also keine<lb/>
günstigere Periode für die reflectirende Gattung der Poesie, welche unser<lb/>
Dichter pflegte, gedacht werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_706" next="#ID_707"> Rutebeuf gehörte, was seine äußeren Verhältnisse anbetrifft, keineswegs<lb/>
zu der günstig situirter Minorität, er war vielmehr darauf angewiesen, mit<lb/>
den Erzeugnissen seiner Muse sein Brot zu erwerben. Die Complaintes oder<lb/>
Klagen, eine Art von nachrufen an Verstorbene, deren wir eine ziemliche<lb/>
Anzahl unter seinen uns erhaltenen Werken antreffen, scheinen auf Bestellung<lb/>
der Hinterbliebenen gefertigt zu sein, gewiß ist, daß der Dichter, wie viele<lb/>
seiner Berufsgenossen, Hochzeiten und ähnliche Festlichkeiten in den Häusern<lb/>
reicher Leute aufsuchte. Der Troveor war im 12. und, wenn auch nicht in<lb/>
den demselben Grade, noch im 13. und 14. Jahrhundert bei jedem fröhlichen<lb/>
Zusammensein ein gern gesehener Gast. Seine Gesänge und Schwänke mu߬<lb/>
ten die Pausen der Unterhaltung ausfüllen, und wahrscheinlich brachte er<lb/>
den Toast auf das Brautpaar, das Geburtstagskind oder den Jubelgreis in<lb/>
Versen aus. Dafür bezog er dann außer der Bewirthung an der festlichen<lb/>
Tafel eine Belohnung in Geld, Kleidern oder Lebensmitteln. Die Revenüen<lb/>
eines Gelegenheitsdichters müssen aber im Allgemeinen nicht besonders glän¬<lb/>
zend gewesen sein, denn nicht nur bei Rutebeuf. sondern auch bei seinen Ge¬<lb/>
nossen wiederholen sich herzbrechende Klagen über Armuth und Elend. Rute¬<lb/>
beuf hatte seinen bedauernswerthen pecuniären Verhältnissen eine Reihe von<lb/>
Gedichten gewidmet. In einem derselben sagt er</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0269] höfischen Rittergedichten, der Gunst-des Publikums; als aber mit der Mitte des 13. Jahrhunderts der ritterliche Geist und mit ihm die epische Ritter¬ dichtung zu verfallen anfing, als die Gefühlsschwärmerei, welche das frühe Mittelalter durchdrang, sich in den Kreuzzügen ausgetobt und abgekühlt hatte, und an ihre Stelle nüchterne und berechnende Ueberlegung zu treten begann, da wurden diese kleineren Gedichte, welche sich im Allgemeinen von jeder Schwärmerei fern halten, und in denen, so zu sagen, der gesunde Menschenverstand das poetische Element abgibt, entschiedene Lieblinge des Tages. Unter allen Verfassern von Dies und Fabliaux ist keiner häusiger ge¬ nannt worden, als der Troveor Rutebeuf, und mit Recht, denn er kann wegen seiner persönlichen Verhältnisse und wegen der von ihm behandelten Stoffe als ein Repräsentant der ganzen Klasse angesehen werden. Rutebeuf dichtete von 1260 bis etwa 1286, also während der letzten Regierungsjahre des heiligen Ludwig und während der letzten großen An¬ strengungen, welche die christliche Welt machte, das durch die Kreuzzüge im Orient Eroberte zu behaupten. Der ritterliche schwärmende Geist hatte sich in den vergangenen sechs Kreuzzügen abgekühlt und begann einer materali- stischen, nüchtern-verständigen Richtung zu weichen. Es kann also keine günstigere Periode für die reflectirende Gattung der Poesie, welche unser Dichter pflegte, gedacht werden. Rutebeuf gehörte, was seine äußeren Verhältnisse anbetrifft, keineswegs zu der günstig situirter Minorität, er war vielmehr darauf angewiesen, mit den Erzeugnissen seiner Muse sein Brot zu erwerben. Die Complaintes oder Klagen, eine Art von nachrufen an Verstorbene, deren wir eine ziemliche Anzahl unter seinen uns erhaltenen Werken antreffen, scheinen auf Bestellung der Hinterbliebenen gefertigt zu sein, gewiß ist, daß der Dichter, wie viele seiner Berufsgenossen, Hochzeiten und ähnliche Festlichkeiten in den Häusern reicher Leute aufsuchte. Der Troveor war im 12. und, wenn auch nicht in den demselben Grade, noch im 13. und 14. Jahrhundert bei jedem fröhlichen Zusammensein ein gern gesehener Gast. Seine Gesänge und Schwänke mu߬ ten die Pausen der Unterhaltung ausfüllen, und wahrscheinlich brachte er den Toast auf das Brautpaar, das Geburtstagskind oder den Jubelgreis in Versen aus. Dafür bezog er dann außer der Bewirthung an der festlichen Tafel eine Belohnung in Geld, Kleidern oder Lebensmitteln. Die Revenüen eines Gelegenheitsdichters müssen aber im Allgemeinen nicht besonders glän¬ zend gewesen sein, denn nicht nur bei Rutebeuf. sondern auch bei seinen Ge¬ nossen wiederholen sich herzbrechende Klagen über Armuth und Elend. Rute¬ beuf hatte seinen bedauernswerthen pecuniären Verhältnissen eine Reihe von Gedichten gewidmet. In einem derselben sagt er

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/269
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/269>, abgerufen am 04.07.2024.