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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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verlohnt meist überhaupt nicht die Mühe des Studiums. Ob der Barde Thor-
kil am 22. März 1260 gestorben ist, ob ihn seine Frau Aslaug noch um
sechs Jahre überlebt hat, ob und wie viel Kinder vor den beiden wackeren
Eheleuten gestorben sind, das hat wenigstens kein allgemeines Interesse und
selbst für die specialste Specialgeschichte ist im Norden der Sinn für solche
Minutien allmählich erstorben, womit sie sich einst vorwiegend zu schaffen
machte.

Kein sachkundiger wird sich durch die ostensible Wichtigthuerei ver¬
blüffen lassen, mit der man unter den nordischen Gelehrten und Dilettanten
-- oder richtiger, wenigstens nach unserem deutschen Maßstab: dilettanti¬
schen Gelehrten, -- das Aufspüren von Runeninschriften, ihre Sammlung und
Publikation zu betreiben pflegt. Ein bischen geschäftige Kleinmeisterei dürfte
man sich schon gefallen lassen, denn wie anders ließe sich das Mißverhältniß
zwischen der aufgewandten Mühe und dem wirklichen Gehalt der Resultate
ertragen, als daß man die letzteren etwas übertreibt? Aber jedes Ding hat
sein Maß, sagt der alte klassische Spruch, und viel Lärmen um nichts ist auf die
Dauer unausstehlich. Hierin wird aber dort das möglichste geleistet, nament¬
lich seitdem sich ein durch bloße krankhafte Eitelkeit der Individuen selbst
krankhaft in die Höhe geschraubter Patriotismus auch dieses Gegenstandes
bemächtigt und darin, zum Theil in bewußter Absicht zu fälschen, einen Un¬
fug ohne Gleichen treibt. Liest man die pompösen Einleitungen der ver¬
schiedenen -- nebenbei gesagt oft recht splendid und immer elegant ausge¬
statteten -- neueren und neuesten Runenwerke, so sollte man glauben, es
handele sich hier um Ergebnisse für die menschliche Bildungsgeschichte, wie
sie etwa die Inschriften der Grabkammer eines Sesostris oder der Palasthalle
eines Tiglatpilessar in Niniveh liefern werden, wenn wir sie erst sicherer
lesen können, als es bisher leider vergönnt war. Und schließlich ist in
der Regel weiter nichts als ein enges, dumpfes, pretensiöses Bauernthum,
wie man es noch aus den Inschriften jedes Dorfkirchhofes im Jahre des
Herren 1868 herauslesen kann. Ein paar dürftige auteur- oder richtiger sitten¬
geschichtliche Apperxus a 1a Riehl, ein paar Charakterzüge einer Physiognomie,
die an sich nur zu wenig interessantes hat, als daß sich ihr Detailstudium ver¬
lohnte -- das ist alles, woraus wir gefaßt sein dürfen.

Eines aber und etwas nicht uninteressantes ist von der renommistischen
Halbwisserei, die sich hier so breit macht, beinahe unbeachtet gelassen. Wenn
aus den Runensteinen auch nicht viel neues für Sitte und Geschichte zu ler¬
nen ist, wenn das altnordische Wörterbuch der übrigen Sprache auch für sie
im allgemeinen ausreicht und keine besondere Bereicherung aus ihnen em¬
pfängt, so können sie doch bei richtiger Verwerthung zu wichtigen Sprach¬
quellen gemacht werden. Gerade was ihnen an Correctheit abgeht, ist das,


verlohnt meist überhaupt nicht die Mühe des Studiums. Ob der Barde Thor-
kil am 22. März 1260 gestorben ist, ob ihn seine Frau Aslaug noch um
sechs Jahre überlebt hat, ob und wie viel Kinder vor den beiden wackeren
Eheleuten gestorben sind, das hat wenigstens kein allgemeines Interesse und
selbst für die specialste Specialgeschichte ist im Norden der Sinn für solche
Minutien allmählich erstorben, womit sie sich einst vorwiegend zu schaffen
machte.

Kein sachkundiger wird sich durch die ostensible Wichtigthuerei ver¬
blüffen lassen, mit der man unter den nordischen Gelehrten und Dilettanten
— oder richtiger, wenigstens nach unserem deutschen Maßstab: dilettanti¬
schen Gelehrten, — das Aufspüren von Runeninschriften, ihre Sammlung und
Publikation zu betreiben pflegt. Ein bischen geschäftige Kleinmeisterei dürfte
man sich schon gefallen lassen, denn wie anders ließe sich das Mißverhältniß
zwischen der aufgewandten Mühe und dem wirklichen Gehalt der Resultate
ertragen, als daß man die letzteren etwas übertreibt? Aber jedes Ding hat
sein Maß, sagt der alte klassische Spruch, und viel Lärmen um nichts ist auf die
Dauer unausstehlich. Hierin wird aber dort das möglichste geleistet, nament¬
lich seitdem sich ein durch bloße krankhafte Eitelkeit der Individuen selbst
krankhaft in die Höhe geschraubter Patriotismus auch dieses Gegenstandes
bemächtigt und darin, zum Theil in bewußter Absicht zu fälschen, einen Un¬
fug ohne Gleichen treibt. Liest man die pompösen Einleitungen der ver¬
schiedenen — nebenbei gesagt oft recht splendid und immer elegant ausge¬
statteten — neueren und neuesten Runenwerke, so sollte man glauben, es
handele sich hier um Ergebnisse für die menschliche Bildungsgeschichte, wie
sie etwa die Inschriften der Grabkammer eines Sesostris oder der Palasthalle
eines Tiglatpilessar in Niniveh liefern werden, wenn wir sie erst sicherer
lesen können, als es bisher leider vergönnt war. Und schließlich ist in
der Regel weiter nichts als ein enges, dumpfes, pretensiöses Bauernthum,
wie man es noch aus den Inschriften jedes Dorfkirchhofes im Jahre des
Herren 1868 herauslesen kann. Ein paar dürftige auteur- oder richtiger sitten¬
geschichtliche Apperxus a 1a Riehl, ein paar Charakterzüge einer Physiognomie,
die an sich nur zu wenig interessantes hat, als daß sich ihr Detailstudium ver¬
lohnte — das ist alles, woraus wir gefaßt sein dürfen.

Eines aber und etwas nicht uninteressantes ist von der renommistischen
Halbwisserei, die sich hier so breit macht, beinahe unbeachtet gelassen. Wenn
aus den Runensteinen auch nicht viel neues für Sitte und Geschichte zu ler¬
nen ist, wenn das altnordische Wörterbuch der übrigen Sprache auch für sie
im allgemeinen ausreicht und keine besondere Bereicherung aus ihnen em¬
pfängt, so können sie doch bei richtiger Verwerthung zu wichtigen Sprach¬
quellen gemacht werden. Gerade was ihnen an Correctheit abgeht, ist das,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/100>, abgerufen am 04.07.2024.