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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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eines müßigen Journalisten ist, wird wesentlich dadurch unterstützt, daß die
in Rede stehende Abhandlung einem Staatsmanne gewidmet ist, der vor
nunmehr 23 Jahren in der Geschichte Serbiens eine wichtige Rolle gespielt
hat, jenem Baron Wilhelm Lieven, der als Flügeladjutant und außer¬
ordentlicher Gesandte des Kaisers Nikolaus die nach der Vertreibung des
Fürsten Michael Obrenowitsch von der Pforte bestätigte Wahl Alexanders,
(des Sohnes des serbischen Nationalhelden Kara Georg) rückgängig machte
und im Mai 1843 denselben Prinzen Alexander noch einmal wählen ließ, um
aller Welt zu beweisen, daß nicht der Sultan, sondern der Kaiser von Ru߬
land der wahre Oberherr Serbiens sei. -- Wünsche für die serbische Unab¬
hängigkeit und für das möglichst beschleunigte Wachsthum des Fürstenthums
sind von unserer Presse vor wie nach dem Erscheinen dieses Artikels so häufig
und so unverblümt Verlautbart worden, daß ein Zusammenhang zwischen
diesem und der gesammten in der russischen Journalistik getriebenen Agitation
ebenso zweifellos erscheint, wie das Hinüberspielen russischer Einflüsse nach
Galizien. Schon im Herbst ist vom Invaliden, der Most. Zeitung, der
Moskwa u. s. w. direct darauf hingewiesen worden, die Hauptrücksicht, welche
alle Handlungen unserer Diplomatie leiten müsse, sei die Wirkung auf die
außerrussischen Stammesgenossen, denn die Bundesgenossenschaft und moralische
Unterstützung dieser sei wichtiger, als jede Allianz mit Preußen, Frankreich
oder irgend einem andern Staat des westlichen Europa. Hauptsächlich den
zur Zeit des Kongresses angeknüpften Verbindungen ist es zu danken, daß
Man über die Vorgänge an der Donau bei uns besser unterrichtet ist, als
irgendwo im übrigen Europa, Wien und Constantinopel nicht ausgenommen.
Man hat gelernt, das Wesentliche von dem Unwesentlichen zu unterscheiden,
die Aufmerksamkeit der Nation auf die richtigen Punkte zu lenken und der
an und für sich nebulosen panslavistischen Idee unter vorläufigen Verzicht
auf weiter abzielende Pläne wahrhaft praktische, für die politischen Bedürf¬
nisse der nächsten Zukunft verwendbare Seiten abzugewinnen.

Ob und in wie weit die Regierung sich mit kriegerischen oder feindlichen
Eroberungsplänen für das Frühjahr 1863 trägt, darüber werden Sie nach
Kenntnißnahme dieser meiner Beobachtungen freilich ebenso im Dunkeln
bleiben, wie vorher. Sie theilen damit nur das Geschick der Mehrzahl
unserer autochthonen Politiker. So wenig es aber gleichgiltig sein kann,
welches die Gedanken und Pläne der französischen Zeitungsschreiber und
Zeitungsleser während der letzten Monate gewesen sind, so berechtigt erscheint
es, aus den Meinungen und Wünschen, welche von mehr wie einer Seite
her unter dem russischen Publikum verbreitet worden sind, auf die Gedanken
derer zu schließen, welche dieselben in Cours gesetzt haben. Die Beschäfti¬
gung mit der orientalischen Frage ist freilich schon im Jahre 1866 eine außer-


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eines müßigen Journalisten ist, wird wesentlich dadurch unterstützt, daß die
in Rede stehende Abhandlung einem Staatsmanne gewidmet ist, der vor
nunmehr 23 Jahren in der Geschichte Serbiens eine wichtige Rolle gespielt
hat, jenem Baron Wilhelm Lieven, der als Flügeladjutant und außer¬
ordentlicher Gesandte des Kaisers Nikolaus die nach der Vertreibung des
Fürsten Michael Obrenowitsch von der Pforte bestätigte Wahl Alexanders,
(des Sohnes des serbischen Nationalhelden Kara Georg) rückgängig machte
und im Mai 1843 denselben Prinzen Alexander noch einmal wählen ließ, um
aller Welt zu beweisen, daß nicht der Sultan, sondern der Kaiser von Ru߬
land der wahre Oberherr Serbiens sei. — Wünsche für die serbische Unab¬
hängigkeit und für das möglichst beschleunigte Wachsthum des Fürstenthums
sind von unserer Presse vor wie nach dem Erscheinen dieses Artikels so häufig
und so unverblümt Verlautbart worden, daß ein Zusammenhang zwischen
diesem und der gesammten in der russischen Journalistik getriebenen Agitation
ebenso zweifellos erscheint, wie das Hinüberspielen russischer Einflüsse nach
Galizien. Schon im Herbst ist vom Invaliden, der Most. Zeitung, der
Moskwa u. s. w. direct darauf hingewiesen worden, die Hauptrücksicht, welche
alle Handlungen unserer Diplomatie leiten müsse, sei die Wirkung auf die
außerrussischen Stammesgenossen, denn die Bundesgenossenschaft und moralische
Unterstützung dieser sei wichtiger, als jede Allianz mit Preußen, Frankreich
oder irgend einem andern Staat des westlichen Europa. Hauptsächlich den
zur Zeit des Kongresses angeknüpften Verbindungen ist es zu danken, daß
Man über die Vorgänge an der Donau bei uns besser unterrichtet ist, als
irgendwo im übrigen Europa, Wien und Constantinopel nicht ausgenommen.
Man hat gelernt, das Wesentliche von dem Unwesentlichen zu unterscheiden,
die Aufmerksamkeit der Nation auf die richtigen Punkte zu lenken und der
an und für sich nebulosen panslavistischen Idee unter vorläufigen Verzicht
auf weiter abzielende Pläne wahrhaft praktische, für die politischen Bedürf¬
nisse der nächsten Zukunft verwendbare Seiten abzugewinnen.

Ob und in wie weit die Regierung sich mit kriegerischen oder feindlichen
Eroberungsplänen für das Frühjahr 1863 trägt, darüber werden Sie nach
Kenntnißnahme dieser meiner Beobachtungen freilich ebenso im Dunkeln
bleiben, wie vorher. Sie theilen damit nur das Geschick der Mehrzahl
unserer autochthonen Politiker. So wenig es aber gleichgiltig sein kann,
welches die Gedanken und Pläne der französischen Zeitungsschreiber und
Zeitungsleser während der letzten Monate gewesen sind, so berechtigt erscheint
es, aus den Meinungen und Wünschen, welche von mehr wie einer Seite
her unter dem russischen Publikum verbreitet worden sind, auf die Gedanken
derer zu schließen, welche dieselben in Cours gesetzt haben. Die Beschäfti¬
gung mit der orientalischen Frage ist freilich schon im Jahre 1866 eine außer-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/83>, abgerufen am 25.08.2024.