Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

für die Candioten zu drängen, darüber war alle Welt einig. Nach der herr¬
schenden Anschauung ist Rußland dem europäischen Frieden zu Liebe immer
noch hinter der Erfüllung seiner natürlichen Aufgabe zurückgeblieben und
officiöse wie unabhängige Journale überbieten sich in Klagen darüber, daß
das Petersburger Cabinet von seinem guten Recht allzu bescheidenen Gebrauch
gemacht habe, allzu maßvoll geblieben sei. Die einzige Partei, welche an
diesem Drängen der öffentlichen Meinung zu energischer Action keinen An¬
theil hat, ist die aristokratisch-constitutionelle und zwar aus mehrfachen Grün¬
den. Einmal deckt sich die panslavistische Partei so vollständig mit der demo¬
kratischen, daß man nicht zu der einen gehören kann, ohne zugleich an den
Bestrebungen der anderen Theil zu nehmen, und zweitens gilt es für ausge¬
macht, daß jeder Versuch zu einem Vorgehen gegen die Psorte mit der
Occupation Galiziens und der Befreiung der glaubensverwandten Nuthenen
vom polnisch-katholischen Joch beginnen werde. Die Aristokratie, welche die
Vernichtung der conservativen Elemente in Litthauen und Polen bereits höchst
ungern gesehen hat und nicht mit Unrecht fürchtet, das in diesen Theilen
des Reichs aufgerichtete Bauernregiment werde mit der Zeit zur vollständigen
Vernichtung des russischen Adels und seines Einflusses führen, will aber um
keinen Preis etwas von der Begünstigung der bäuerlichen Unabhängigkeits¬
gelüste in Galizien wissen, ihre Sympathien stehen entschieden auf Seiten der
polnischen Gutsbesitzer; zudem ist die Aristokratie Gegnerin jedes Krieges,
weil sie die finanziellen Schwierigkeiten, in denen wir stecken, lebhaft empfin¬
det und sehr pessimistisch beurtheilt, und weil sie ihrem Gegner, dem Kriegs¬
minister Miljutin, keine Gelegenheit gönnt, in der Gunst des Monarchen zu
steigen und seinen Einfluß zu vergrößern. Dazu kommt noch eine andere
Personenfrage: der Kanzler, Fürst Gortschakow, der gleichfalls Gegner des
Krieges ist, gilt für eine Hauptstütze der conservativen Interessen im kaiser¬
lichen Cabinet, während der Hauptanwalt der kriegerischen Nationalpartei,
der constantinopolitanische Botschafter Jgnatjew, vorNder Aristokratie demo¬
kratischer Tendenzen beargwohnt wird und für einen Mann von plebejen
und verletzenden Formen gilt. Freilich ist unsere constitutionelle Adelspartei
nie einflußloser und unpopulärer gewesen, als im gegenwärtigen Augenblick;
mit dem Hof hat sie es durch ihre Unbotmäßigkeit bei Gelegenheit der Peters¬
burger Gouvernementsversammlung im Februar 1867 verdorben; der öffent¬
lichen Meinung hat sie sich durch ihre Gegnerschaft gegen die russificatorischen
Maßnahmen in den Ostseeprovinzen und zin Litthauen und durch die kühle
Ablehnung entfremdet, welche ihr Organ, die Zeitung "Weßth", dem Slaven-
congreß gegenüber zur Schau trug.

Mit der gesteigerten Theilnahme für die orientalische Frage, welche durch
die neuerdings erfolgte Veröffentlichung von 30 diplomatischen Ackerstücken


für die Candioten zu drängen, darüber war alle Welt einig. Nach der herr¬
schenden Anschauung ist Rußland dem europäischen Frieden zu Liebe immer
noch hinter der Erfüllung seiner natürlichen Aufgabe zurückgeblieben und
officiöse wie unabhängige Journale überbieten sich in Klagen darüber, daß
das Petersburger Cabinet von seinem guten Recht allzu bescheidenen Gebrauch
gemacht habe, allzu maßvoll geblieben sei. Die einzige Partei, welche an
diesem Drängen der öffentlichen Meinung zu energischer Action keinen An¬
theil hat, ist die aristokratisch-constitutionelle und zwar aus mehrfachen Grün¬
den. Einmal deckt sich die panslavistische Partei so vollständig mit der demo¬
kratischen, daß man nicht zu der einen gehören kann, ohne zugleich an den
Bestrebungen der anderen Theil zu nehmen, und zweitens gilt es für ausge¬
macht, daß jeder Versuch zu einem Vorgehen gegen die Psorte mit der
Occupation Galiziens und der Befreiung der glaubensverwandten Nuthenen
vom polnisch-katholischen Joch beginnen werde. Die Aristokratie, welche die
Vernichtung der conservativen Elemente in Litthauen und Polen bereits höchst
ungern gesehen hat und nicht mit Unrecht fürchtet, das in diesen Theilen
des Reichs aufgerichtete Bauernregiment werde mit der Zeit zur vollständigen
Vernichtung des russischen Adels und seines Einflusses führen, will aber um
keinen Preis etwas von der Begünstigung der bäuerlichen Unabhängigkeits¬
gelüste in Galizien wissen, ihre Sympathien stehen entschieden auf Seiten der
polnischen Gutsbesitzer; zudem ist die Aristokratie Gegnerin jedes Krieges,
weil sie die finanziellen Schwierigkeiten, in denen wir stecken, lebhaft empfin¬
det und sehr pessimistisch beurtheilt, und weil sie ihrem Gegner, dem Kriegs¬
minister Miljutin, keine Gelegenheit gönnt, in der Gunst des Monarchen zu
steigen und seinen Einfluß zu vergrößern. Dazu kommt noch eine andere
Personenfrage: der Kanzler, Fürst Gortschakow, der gleichfalls Gegner des
Krieges ist, gilt für eine Hauptstütze der conservativen Interessen im kaiser¬
lichen Cabinet, während der Hauptanwalt der kriegerischen Nationalpartei,
der constantinopolitanische Botschafter Jgnatjew, vorNder Aristokratie demo¬
kratischer Tendenzen beargwohnt wird und für einen Mann von plebejen
und verletzenden Formen gilt. Freilich ist unsere constitutionelle Adelspartei
nie einflußloser und unpopulärer gewesen, als im gegenwärtigen Augenblick;
mit dem Hof hat sie es durch ihre Unbotmäßigkeit bei Gelegenheit der Peters¬
burger Gouvernementsversammlung im Februar 1867 verdorben; der öffent¬
lichen Meinung hat sie sich durch ihre Gegnerschaft gegen die russificatorischen
Maßnahmen in den Ostseeprovinzen und zin Litthauen und durch die kühle
Ablehnung entfremdet, welche ihr Organ, die Zeitung „Weßth", dem Slaven-
congreß gegenüber zur Schau trug.

Mit der gesteigerten Theilnahme für die orientalische Frage, welche durch
die neuerdings erfolgte Veröffentlichung von 30 diplomatischen Ackerstücken


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0076" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117082"/>
          <p xml:id="ID_230" prev="#ID_229"> für die Candioten zu drängen, darüber war alle Welt einig. Nach der herr¬<lb/>
schenden Anschauung ist Rußland dem europäischen Frieden zu Liebe immer<lb/>
noch hinter der Erfüllung seiner natürlichen Aufgabe zurückgeblieben und<lb/>
officiöse wie unabhängige Journale überbieten sich in Klagen darüber, daß<lb/>
das Petersburger Cabinet von seinem guten Recht allzu bescheidenen Gebrauch<lb/>
gemacht habe, allzu maßvoll geblieben sei. Die einzige Partei, welche an<lb/>
diesem Drängen der öffentlichen Meinung zu energischer Action keinen An¬<lb/>
theil hat, ist die aristokratisch-constitutionelle und zwar aus mehrfachen Grün¬<lb/>
den. Einmal deckt sich die panslavistische Partei so vollständig mit der demo¬<lb/>
kratischen, daß man nicht zu der einen gehören kann, ohne zugleich an den<lb/>
Bestrebungen der anderen Theil zu nehmen, und zweitens gilt es für ausge¬<lb/>
macht, daß jeder Versuch zu einem Vorgehen gegen die Psorte mit der<lb/>
Occupation Galiziens und der Befreiung der glaubensverwandten Nuthenen<lb/>
vom polnisch-katholischen Joch beginnen werde. Die Aristokratie, welche die<lb/>
Vernichtung der conservativen Elemente in Litthauen und Polen bereits höchst<lb/>
ungern gesehen hat und nicht mit Unrecht fürchtet, das in diesen Theilen<lb/>
des Reichs aufgerichtete Bauernregiment werde mit der Zeit zur vollständigen<lb/>
Vernichtung des russischen Adels und seines Einflusses führen, will aber um<lb/>
keinen Preis etwas von der Begünstigung der bäuerlichen Unabhängigkeits¬<lb/>
gelüste in Galizien wissen, ihre Sympathien stehen entschieden auf Seiten der<lb/>
polnischen Gutsbesitzer; zudem ist die Aristokratie Gegnerin jedes Krieges,<lb/>
weil sie die finanziellen Schwierigkeiten, in denen wir stecken, lebhaft empfin¬<lb/>
det und sehr pessimistisch beurtheilt, und weil sie ihrem Gegner, dem Kriegs¬<lb/>
minister Miljutin, keine Gelegenheit gönnt, in der Gunst des Monarchen zu<lb/>
steigen und seinen Einfluß zu vergrößern. Dazu kommt noch eine andere<lb/>
Personenfrage: der Kanzler, Fürst Gortschakow, der gleichfalls Gegner des<lb/>
Krieges ist, gilt für eine Hauptstütze der conservativen Interessen im kaiser¬<lb/>
lichen Cabinet, während der Hauptanwalt der kriegerischen Nationalpartei,<lb/>
der constantinopolitanische Botschafter Jgnatjew, vorNder Aristokratie demo¬<lb/>
kratischer Tendenzen beargwohnt wird und für einen Mann von plebejen<lb/>
und verletzenden Formen gilt. Freilich ist unsere constitutionelle Adelspartei<lb/>
nie einflußloser und unpopulärer gewesen, als im gegenwärtigen Augenblick;<lb/>
mit dem Hof hat sie es durch ihre Unbotmäßigkeit bei Gelegenheit der Peters¬<lb/>
burger Gouvernementsversammlung im Februar 1867 verdorben; der öffent¬<lb/>
lichen Meinung hat sie sich durch ihre Gegnerschaft gegen die russificatorischen<lb/>
Maßnahmen in den Ostseeprovinzen und zin Litthauen und durch die kühle<lb/>
Ablehnung entfremdet, welche ihr Organ, die Zeitung &#x201E;Weßth", dem Slaven-<lb/>
congreß gegenüber zur Schau trug.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_231" next="#ID_232"> Mit der gesteigerten Theilnahme für die orientalische Frage, welche durch<lb/>
die neuerdings erfolgte Veröffentlichung von 30 diplomatischen Ackerstücken</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0076] für die Candioten zu drängen, darüber war alle Welt einig. Nach der herr¬ schenden Anschauung ist Rußland dem europäischen Frieden zu Liebe immer noch hinter der Erfüllung seiner natürlichen Aufgabe zurückgeblieben und officiöse wie unabhängige Journale überbieten sich in Klagen darüber, daß das Petersburger Cabinet von seinem guten Recht allzu bescheidenen Gebrauch gemacht habe, allzu maßvoll geblieben sei. Die einzige Partei, welche an diesem Drängen der öffentlichen Meinung zu energischer Action keinen An¬ theil hat, ist die aristokratisch-constitutionelle und zwar aus mehrfachen Grün¬ den. Einmal deckt sich die panslavistische Partei so vollständig mit der demo¬ kratischen, daß man nicht zu der einen gehören kann, ohne zugleich an den Bestrebungen der anderen Theil zu nehmen, und zweitens gilt es für ausge¬ macht, daß jeder Versuch zu einem Vorgehen gegen die Psorte mit der Occupation Galiziens und der Befreiung der glaubensverwandten Nuthenen vom polnisch-katholischen Joch beginnen werde. Die Aristokratie, welche die Vernichtung der conservativen Elemente in Litthauen und Polen bereits höchst ungern gesehen hat und nicht mit Unrecht fürchtet, das in diesen Theilen des Reichs aufgerichtete Bauernregiment werde mit der Zeit zur vollständigen Vernichtung des russischen Adels und seines Einflusses führen, will aber um keinen Preis etwas von der Begünstigung der bäuerlichen Unabhängigkeits¬ gelüste in Galizien wissen, ihre Sympathien stehen entschieden auf Seiten der polnischen Gutsbesitzer; zudem ist die Aristokratie Gegnerin jedes Krieges, weil sie die finanziellen Schwierigkeiten, in denen wir stecken, lebhaft empfin¬ det und sehr pessimistisch beurtheilt, und weil sie ihrem Gegner, dem Kriegs¬ minister Miljutin, keine Gelegenheit gönnt, in der Gunst des Monarchen zu steigen und seinen Einfluß zu vergrößern. Dazu kommt noch eine andere Personenfrage: der Kanzler, Fürst Gortschakow, der gleichfalls Gegner des Krieges ist, gilt für eine Hauptstütze der conservativen Interessen im kaiser¬ lichen Cabinet, während der Hauptanwalt der kriegerischen Nationalpartei, der constantinopolitanische Botschafter Jgnatjew, vorNder Aristokratie demo¬ kratischer Tendenzen beargwohnt wird und für einen Mann von plebejen und verletzenden Formen gilt. Freilich ist unsere constitutionelle Adelspartei nie einflußloser und unpopulärer gewesen, als im gegenwärtigen Augenblick; mit dem Hof hat sie es durch ihre Unbotmäßigkeit bei Gelegenheit der Peters¬ burger Gouvernementsversammlung im Februar 1867 verdorben; der öffent¬ lichen Meinung hat sie sich durch ihre Gegnerschaft gegen die russificatorischen Maßnahmen in den Ostseeprovinzen und zin Litthauen und durch die kühle Ablehnung entfremdet, welche ihr Organ, die Zeitung „Weßth", dem Slaven- congreß gegenüber zur Schau trug. Mit der gesteigerten Theilnahme für die orientalische Frage, welche durch die neuerdings erfolgte Veröffentlichung von 30 diplomatischen Ackerstücken

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/76
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/76>, abgerufen am 24.08.2024.