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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Tricots und mit unglaublich langen Perücken, die das Greisenalter in allen
Schattirungen darstellten und deren Locken ihnen bei jeder Bewegung wie
eine Mähne über das Gesicht fielen. Sie sangen Mendelssohn und stellten
sich inmitten der Orchestra auf, rings um einen Leinwandverschlag, hinter
dem eine Physharmonika die Begleitung lieferte und zugleich der unentbehr¬
liche Soufleur versteckt war. Während der Parodos erschien Antigone wie¬
der, um in mächtigen Schritten eine schwarze berliner Modevase als Aschen¬
urne quer über die Bühne zu tragen. In gleichem Sinne klassisch war das
Austreten Kreons, der nicht anders als auf einem Beine stand, indem das
andere nur mit den Fußspitzen den Boden berührte, und der bei je^em Aus¬
druck seiner Herrseherwürde den'rothen Mantel entrüstet über die Achsel
warf. So konnte es auch nicht befremden, daß Haimon tobte, daß Teiresias
beständig zitterte, daß der Chorag, wenn er auf die Bühne trippelte, als
Greis gebeugt in einem Winkel von 45 Grad dastand. Aber entschieden
neu war die Wendung, daß die Dame, welche Eurydike gab, statt sich als
Leiche zu der des Haimon herauftragen zu lassen -- was ihr wohl zu indecent
war, da man das Auskunftsmittel einer Bahre nicht zu kennen schien --
aus dem Palast hervorwankte, um unvermuthet neben Kreon todt niederzu¬
stürzen. Und alle gerechten Erwartungen übertraf der Umstand, daß, so oft
Kreon durch die mittelste Thür in der Haltung des borghesischen Fechters
sich entfernte, die Thürflügel offen blieben und währenddem ein Photograph
in lichten Beinkleidern sich eifrig mit seiner Maschine beschäftigte, um vom
hohen und höchsten Publikum Sekundenbilder aufzunehmen. Da Kreon sich
öfters zu entfernen hatte, so sah man zu verschiedenen Malen viele gefällige
Leute in gefälligen Attitüden, und gute Beobachter wollen selbst bemerkt
haben, daß sogar die sehr würdige Dame, welche als Oberhofmeisterin der
Königin in hohen Jahren aus dem Norden zu den Athenern gekommen ist
und beim Einzug der Königin von dem Volk mit wenig schmeichelhaften
Bemerkungen bezeichnet worden war, ihrem vornehmen Ernst zu Gunsten
des Photographen entsagte, und ihre Züge jedesmal mit lächelndem Wohl¬
wollen verklärte, so oft Kreon der Tyrann verschwand und Bosko der Photo¬
graph erschien.

Das Publikum, das eifrig im Textbuch nachlas, verhielt sich bis gegen
das Ende ruhig, belohnte aber dann den vielen Aufwand mit großem Bei¬
fall. Der Stolz, ein sophokleisches Stück wieder gesehen zu haben, ist begreif¬
licherweise groß, und gern mögen wir den Hellenen und Philhellenen glauben,
daß der Unterschied zwischen dieser Aufführung und einer antiken nur darin
bestand, daß Antigone am Südabhang der Akropolis einige hundert Schritt
weiter westlich auftrat. Etwas bedenklicher freilich mochte das Urtheil man¬
cher europäischer Barbaren lauten, die das Glück hatten, ihre Vorstellungen


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Tricots und mit unglaublich langen Perücken, die das Greisenalter in allen
Schattirungen darstellten und deren Locken ihnen bei jeder Bewegung wie
eine Mähne über das Gesicht fielen. Sie sangen Mendelssohn und stellten
sich inmitten der Orchestra auf, rings um einen Leinwandverschlag, hinter
dem eine Physharmonika die Begleitung lieferte und zugleich der unentbehr¬
liche Soufleur versteckt war. Während der Parodos erschien Antigone wie¬
der, um in mächtigen Schritten eine schwarze berliner Modevase als Aschen¬
urne quer über die Bühne zu tragen. In gleichem Sinne klassisch war das
Austreten Kreons, der nicht anders als auf einem Beine stand, indem das
andere nur mit den Fußspitzen den Boden berührte, und der bei je^em Aus¬
druck seiner Herrseherwürde den'rothen Mantel entrüstet über die Achsel
warf. So konnte es auch nicht befremden, daß Haimon tobte, daß Teiresias
beständig zitterte, daß der Chorag, wenn er auf die Bühne trippelte, als
Greis gebeugt in einem Winkel von 45 Grad dastand. Aber entschieden
neu war die Wendung, daß die Dame, welche Eurydike gab, statt sich als
Leiche zu der des Haimon herauftragen zu lassen — was ihr wohl zu indecent
war, da man das Auskunftsmittel einer Bahre nicht zu kennen schien —
aus dem Palast hervorwankte, um unvermuthet neben Kreon todt niederzu¬
stürzen. Und alle gerechten Erwartungen übertraf der Umstand, daß, so oft
Kreon durch die mittelste Thür in der Haltung des borghesischen Fechters
sich entfernte, die Thürflügel offen blieben und währenddem ein Photograph
in lichten Beinkleidern sich eifrig mit seiner Maschine beschäftigte, um vom
hohen und höchsten Publikum Sekundenbilder aufzunehmen. Da Kreon sich
öfters zu entfernen hatte, so sah man zu verschiedenen Malen viele gefällige
Leute in gefälligen Attitüden, und gute Beobachter wollen selbst bemerkt
haben, daß sogar die sehr würdige Dame, welche als Oberhofmeisterin der
Königin in hohen Jahren aus dem Norden zu den Athenern gekommen ist
und beim Einzug der Königin von dem Volk mit wenig schmeichelhaften
Bemerkungen bezeichnet worden war, ihrem vornehmen Ernst zu Gunsten
des Photographen entsagte, und ihre Züge jedesmal mit lächelndem Wohl¬
wollen verklärte, so oft Kreon der Tyrann verschwand und Bosko der Photo¬
graph erschien.

Das Publikum, das eifrig im Textbuch nachlas, verhielt sich bis gegen
das Ende ruhig, belohnte aber dann den vielen Aufwand mit großem Bei¬
fall. Der Stolz, ein sophokleisches Stück wieder gesehen zu haben, ist begreif¬
licherweise groß, und gern mögen wir den Hellenen und Philhellenen glauben,
daß der Unterschied zwischen dieser Aufführung und einer antiken nur darin
bestand, daß Antigone am Südabhang der Akropolis einige hundert Schritt
weiter westlich auftrat. Etwas bedenklicher freilich mochte das Urtheil man¬
cher europäischer Barbaren lauten, die das Glück hatten, ihre Vorstellungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/51>, abgerufen am 03.07.2024.