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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Gentz nicht mit fast heuchlerischer Emphase über denselben Gegenstand aus¬
rufen können: "Im Fleisch muß die Revolution bekämpft werden, die mora¬
lischen Mittel sind vor der Hand ganz ohnmächtig. In geharnischten Glie¬
dern, aufmarschirt in Massen, müssen endlich die beiden Systeme auf Leben
und Tod kämpfen. Siegen wir, so siegen alle guten Sachen mit uns. Wer¬
den wir (tmgliter) geschlagen, so mag Gott in tausend Jahren eine neue
Welt schaffen, mit der alten ist es dann im christlichen und moralischen
Sinne aus."

Die Charakteristik jener mattherziger und verirrten Anschauungen, welche
die Zeit beherrschten, wird erst vollständig, wenn man sich des Hohnes be.
wußt bleibt, mit welcher diese Staatsmänner den "ridiculen preußischen Hof"
betrachteten. Schon 1818 schreibt Gentz: "Von der Verehrung, welche die
Preußen allem, was Oestreich angeht, unserer ganzen Stellung, unserm
System, unsern Maßregeln, unserer Sprache u. f. w. widmen, könnte ich
Ihnen einen langen Brief schreiben. Die Persönlichkeit des Fürsten Metter-
nich und sein ebenso liebenswürdiges als klug berechnendes Benehmen hat
sie nun vollends bezaubert." Und noch 1826: "Es geht ins unglaubliche,
was man der preußischen Regierung heute bieten darf." Es waren freilich
Wonnetage für ihn, als er und Metternich "schon zwei Meilen vor Cöln
zwischen einer Art von fortlaufendem Spalier, durch die Volksmenge Einzug
in Cöln hielten" und der Kaiser in Aachen "sich gleich beim Eintritt in den
Dom in einen Betstuhl warf, seine Andacht verrichtete, die Reliquien und
das berühmte Evangelienbuch küßte, während der König und sein Sohn
(heutige Souverains der Stadt!) von fern stehend Zuschauer waren."

Diese wenigen Skizzen bekunden zur Genüge den fundamentalen Unter¬
schied zwischen jener Zeit und unserer befreiten Gegenwart, die doch nur durch
ein Menschenalter getrennt sind. Jene Staatsmänner haben die Kräfte des
Volks nicht zu entbinden, sie haben sie nicht einmal zu achten, nicht einmal
M verstehen gewußt. Es fehlte ihnen jedes Bewußtsein der Zusammen¬
gehörigkeit mit dem Volke, sie schafften nicht nur ohne, sondern auch nicht
einmal für das Volk, sie fühlten sich ohne große sittliche Pflichten, sie be¬
saßen Staatskunst, aber keine Staatsweisheit. "In der praktischen Politik gibt
es eigentlich gar kein System mehr für mich. Es ist nichts als eine Kunst
und der beste Künstler der, der in jedem Augenblick seines Instruments am
meisten Herr ist." -- Sie regierten nur für sich und ihre Fürsten. Lhu"z
vivere et 1g.etg.ri -- dieser Wahlspruch des Sebastians del Piombo und der
ganzen italienischen Renaissance war der ihrige geblieben. "Genießen Sie
das Leben und lassen Sie den Himmel für die Welt sorgen. Es wird immer
noch einige feste Punkte geben, auf welchen man stehen bleiben kann, wenn
auch Alles bricht." All ihr Mühen ging nur dahin, ungestört von den "Un-


Gentz nicht mit fast heuchlerischer Emphase über denselben Gegenstand aus¬
rufen können: „Im Fleisch muß die Revolution bekämpft werden, die mora¬
lischen Mittel sind vor der Hand ganz ohnmächtig. In geharnischten Glie¬
dern, aufmarschirt in Massen, müssen endlich die beiden Systeme auf Leben
und Tod kämpfen. Siegen wir, so siegen alle guten Sachen mit uns. Wer¬
den wir (tmgliter) geschlagen, so mag Gott in tausend Jahren eine neue
Welt schaffen, mit der alten ist es dann im christlichen und moralischen
Sinne aus."

Die Charakteristik jener mattherziger und verirrten Anschauungen, welche
die Zeit beherrschten, wird erst vollständig, wenn man sich des Hohnes be.
wußt bleibt, mit welcher diese Staatsmänner den „ridiculen preußischen Hof"
betrachteten. Schon 1818 schreibt Gentz: „Von der Verehrung, welche die
Preußen allem, was Oestreich angeht, unserer ganzen Stellung, unserm
System, unsern Maßregeln, unserer Sprache u. f. w. widmen, könnte ich
Ihnen einen langen Brief schreiben. Die Persönlichkeit des Fürsten Metter-
nich und sein ebenso liebenswürdiges als klug berechnendes Benehmen hat
sie nun vollends bezaubert." Und noch 1826: „Es geht ins unglaubliche,
was man der preußischen Regierung heute bieten darf." Es waren freilich
Wonnetage für ihn, als er und Metternich „schon zwei Meilen vor Cöln
zwischen einer Art von fortlaufendem Spalier, durch die Volksmenge Einzug
in Cöln hielten" und der Kaiser in Aachen „sich gleich beim Eintritt in den
Dom in einen Betstuhl warf, seine Andacht verrichtete, die Reliquien und
das berühmte Evangelienbuch küßte, während der König und sein Sohn
(heutige Souverains der Stadt!) von fern stehend Zuschauer waren."

Diese wenigen Skizzen bekunden zur Genüge den fundamentalen Unter¬
schied zwischen jener Zeit und unserer befreiten Gegenwart, die doch nur durch
ein Menschenalter getrennt sind. Jene Staatsmänner haben die Kräfte des
Volks nicht zu entbinden, sie haben sie nicht einmal zu achten, nicht einmal
M verstehen gewußt. Es fehlte ihnen jedes Bewußtsein der Zusammen¬
gehörigkeit mit dem Volke, sie schafften nicht nur ohne, sondern auch nicht
einmal für das Volk, sie fühlten sich ohne große sittliche Pflichten, sie be¬
saßen Staatskunst, aber keine Staatsweisheit. „In der praktischen Politik gibt
es eigentlich gar kein System mehr für mich. Es ist nichts als eine Kunst
und der beste Künstler der, der in jedem Augenblick seines Instruments am
meisten Herr ist." — Sie regierten nur für sich und ihre Fürsten. Lhu«z
vivere et 1g.etg.ri — dieser Wahlspruch des Sebastians del Piombo und der
ganzen italienischen Renaissance war der ihrige geblieben. „Genießen Sie
das Leben und lassen Sie den Himmel für die Welt sorgen. Es wird immer
noch einige feste Punkte geben, auf welchen man stehen bleiben kann, wenn
auch Alles bricht." All ihr Mühen ging nur dahin, ungestört von den „Un-


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[0465] Gentz nicht mit fast heuchlerischer Emphase über denselben Gegenstand aus¬ rufen können: „Im Fleisch muß die Revolution bekämpft werden, die mora¬ lischen Mittel sind vor der Hand ganz ohnmächtig. In geharnischten Glie¬ dern, aufmarschirt in Massen, müssen endlich die beiden Systeme auf Leben und Tod kämpfen. Siegen wir, so siegen alle guten Sachen mit uns. Wer¬ den wir (tmgliter) geschlagen, so mag Gott in tausend Jahren eine neue Welt schaffen, mit der alten ist es dann im christlichen und moralischen Sinne aus." Die Charakteristik jener mattherziger und verirrten Anschauungen, welche die Zeit beherrschten, wird erst vollständig, wenn man sich des Hohnes be. wußt bleibt, mit welcher diese Staatsmänner den „ridiculen preußischen Hof" betrachteten. Schon 1818 schreibt Gentz: „Von der Verehrung, welche die Preußen allem, was Oestreich angeht, unserer ganzen Stellung, unserm System, unsern Maßregeln, unserer Sprache u. f. w. widmen, könnte ich Ihnen einen langen Brief schreiben. Die Persönlichkeit des Fürsten Metter- nich und sein ebenso liebenswürdiges als klug berechnendes Benehmen hat sie nun vollends bezaubert." Und noch 1826: „Es geht ins unglaubliche, was man der preußischen Regierung heute bieten darf." Es waren freilich Wonnetage für ihn, als er und Metternich „schon zwei Meilen vor Cöln zwischen einer Art von fortlaufendem Spalier, durch die Volksmenge Einzug in Cöln hielten" und der Kaiser in Aachen „sich gleich beim Eintritt in den Dom in einen Betstuhl warf, seine Andacht verrichtete, die Reliquien und das berühmte Evangelienbuch küßte, während der König und sein Sohn (heutige Souverains der Stadt!) von fern stehend Zuschauer waren." Diese wenigen Skizzen bekunden zur Genüge den fundamentalen Unter¬ schied zwischen jener Zeit und unserer befreiten Gegenwart, die doch nur durch ein Menschenalter getrennt sind. Jene Staatsmänner haben die Kräfte des Volks nicht zu entbinden, sie haben sie nicht einmal zu achten, nicht einmal M verstehen gewußt. Es fehlte ihnen jedes Bewußtsein der Zusammen¬ gehörigkeit mit dem Volke, sie schafften nicht nur ohne, sondern auch nicht einmal für das Volk, sie fühlten sich ohne große sittliche Pflichten, sie be¬ saßen Staatskunst, aber keine Staatsweisheit. „In der praktischen Politik gibt es eigentlich gar kein System mehr für mich. Es ist nichts als eine Kunst und der beste Künstler der, der in jedem Augenblick seines Instruments am meisten Herr ist." — Sie regierten nur für sich und ihre Fürsten. Lhu«z vivere et 1g.etg.ri — dieser Wahlspruch des Sebastians del Piombo und der ganzen italienischen Renaissance war der ihrige geblieben. „Genießen Sie das Leben und lassen Sie den Himmel für die Welt sorgen. Es wird immer noch einige feste Punkte geben, auf welchen man stehen bleiben kann, wenn auch Alles bricht." All ihr Mühen ging nur dahin, ungestört von den „Un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/465>, abgerufen am 22.07.2024.