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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Buch auch auf einen ebenso construirten Autor zurückschließen läßt, ist aus
der Glorie ein dicker Zopf worden. Möglich, daß ihn mancher mit Würde
trägt, möglich auch, daß dieser Kopfschmuck im Kreise strenger Weisen noch
etwas gilt, aber zum Lesezeichen will er uns nicht mehr recht behagen.

Und doch wäre es zur Förderung großer Interessen sehr wünschenswert!),
wenn es sich anders verhielte, wenn wir eine deutsche staatsrechtliche Lite¬
ratur besäßen, aus der man nicht blos gründliche, sondern auch geschmack¬
volle Belehrung schöpfen könnte. Das Bedürfniß ist verbreiteter wie je. Die
praktische Theilnahme an dem Staatswesen wächst in Dimensionen, die man
vor zwanzig Jahren kaum ahnen konnte. Gern oder ungern muß so ziem¬
lich jeder Gebildete, nicht etwa aus Liebhaberei, sondern im Drange der
reelsten Verhältnisse eine bestimmte Position zu dem politischen Leben neh¬
men. Die fast zu zahlreichen parlamentarischen Körperschaften, die nicht wie
Pilze aus der Erde schießen, sondern als spät befruchtete Keime einem auf
der Oberfläche spröden, in der Tiefe unendlich fruchtbaren Boden ent¬
wachsen, beschäftigen sich alle mit Fragen, zu deren klarer und gründ¬
licher Lösung eine gewisse Klarheit und Gründlichkeit staatsrechtlicher
Bildung gehört. Selbst in dem- bescheidensten Gehege einer Locolgemeiude
wird es nöthig sein, über das Verhältniß der ganzen Corporation zu den
Rechten der Individuen, über die gegenseitige Abstufung der Rechtsverhält¬
nisse zwischen der Gemeinde und dem Staate, und über tausend andere
Dinge etwas zu wissen, die alle nicht aus. den Fingern gesogen werden kön¬
nen, wenn nicht blamable Geschichten entstehen sollen, die sich der anmaß-
lichen Öffentlichkeit dieser Tage nicht mehr so leicht vorenthalten lassen, wie
etwa dreißig Jahre früher. °

Freilich kann sich jeder, der Zeit und Mühe daran setzt, gerade so gut
in unser deutsches Staatsrecht einarbeiten, wie in jedes andere Wissen. Aber
es handelt sich hier eben darum, daß die meisten nicht in der Lage sind,
solche Opfer zu bringen und doch bei jedem Schritte in das öffentliche Leben
jenes unangenehme Gefühl der Unsicherheit empfinden, das sich durch einige
zufällig erworbene Notizen aus Leitartikeln und Kammerdebatten nicht be¬
schwichtigen läßt. Auch unsere Staatswörterbücher wollen dazu nicht aus¬
reichen, so wenig wie Jemand die gewöhnlichen Conversationslexica als aus¬
reichend zum Erwerb einer allgemeinen Bildung ansehen wird. Wer schon
etwas im Zusammenhang weiß, mag aus ihnen gelegentlich einmal mit Nutzen
Vergessenes oder Uebersehenes herausholen, eben wo eine solche Grundlage
fehlt, werden sie nicht so wohl verflachend, wie man zu klagen pflegt, als
verwirrend wirken. Wir sind eben keine Franzosen, denen die Schlittschuhe
angeboren sind, um auch auf dem bedenklichsten Glatteis graziös hinzu-


Buch auch auf einen ebenso construirten Autor zurückschließen läßt, ist aus
der Glorie ein dicker Zopf worden. Möglich, daß ihn mancher mit Würde
trägt, möglich auch, daß dieser Kopfschmuck im Kreise strenger Weisen noch
etwas gilt, aber zum Lesezeichen will er uns nicht mehr recht behagen.

Und doch wäre es zur Förderung großer Interessen sehr wünschenswert!),
wenn es sich anders verhielte, wenn wir eine deutsche staatsrechtliche Lite¬
ratur besäßen, aus der man nicht blos gründliche, sondern auch geschmack¬
volle Belehrung schöpfen könnte. Das Bedürfniß ist verbreiteter wie je. Die
praktische Theilnahme an dem Staatswesen wächst in Dimensionen, die man
vor zwanzig Jahren kaum ahnen konnte. Gern oder ungern muß so ziem¬
lich jeder Gebildete, nicht etwa aus Liebhaberei, sondern im Drange der
reelsten Verhältnisse eine bestimmte Position zu dem politischen Leben neh¬
men. Die fast zu zahlreichen parlamentarischen Körperschaften, die nicht wie
Pilze aus der Erde schießen, sondern als spät befruchtete Keime einem auf
der Oberfläche spröden, in der Tiefe unendlich fruchtbaren Boden ent¬
wachsen, beschäftigen sich alle mit Fragen, zu deren klarer und gründ¬
licher Lösung eine gewisse Klarheit und Gründlichkeit staatsrechtlicher
Bildung gehört. Selbst in dem- bescheidensten Gehege einer Locolgemeiude
wird es nöthig sein, über das Verhältniß der ganzen Corporation zu den
Rechten der Individuen, über die gegenseitige Abstufung der Rechtsverhält¬
nisse zwischen der Gemeinde und dem Staate, und über tausend andere
Dinge etwas zu wissen, die alle nicht aus. den Fingern gesogen werden kön¬
nen, wenn nicht blamable Geschichten entstehen sollen, die sich der anmaß-
lichen Öffentlichkeit dieser Tage nicht mehr so leicht vorenthalten lassen, wie
etwa dreißig Jahre früher. °

Freilich kann sich jeder, der Zeit und Mühe daran setzt, gerade so gut
in unser deutsches Staatsrecht einarbeiten, wie in jedes andere Wissen. Aber
es handelt sich hier eben darum, daß die meisten nicht in der Lage sind,
solche Opfer zu bringen und doch bei jedem Schritte in das öffentliche Leben
jenes unangenehme Gefühl der Unsicherheit empfinden, das sich durch einige
zufällig erworbene Notizen aus Leitartikeln und Kammerdebatten nicht be¬
schwichtigen läßt. Auch unsere Staatswörterbücher wollen dazu nicht aus¬
reichen, so wenig wie Jemand die gewöhnlichen Conversationslexica als aus¬
reichend zum Erwerb einer allgemeinen Bildung ansehen wird. Wer schon
etwas im Zusammenhang weiß, mag aus ihnen gelegentlich einmal mit Nutzen
Vergessenes oder Uebersehenes herausholen, eben wo eine solche Grundlage
fehlt, werden sie nicht so wohl verflachend, wie man zu klagen pflegt, als
verwirrend wirken. Wir sind eben keine Franzosen, denen die Schlittschuhe
angeboren sind, um auch auf dem bedenklichsten Glatteis graziös hinzu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/45>, abgerufen am 22.07.2024.