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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Ein Brief über den Nothstand in Ostpreußen.

Sie wünschen für Ihre Zeitschrift eine Besprechung des Nothstandes in
Ostpreußen. Ihnen zu wiederholen, wie es bei uns aussieht, wäre nach
der Wuth von Berichten, welche die Tagesblätter aller Farben darüber ge¬
bracht haben, mindestens überflüssig. Uebertreibungen sind dabei vorgekom¬
men, nach beiden Seiten hin -- das gebe ich bereitwillig zu. Aber leider
bleibt dazwischen noch genug, mehr als genug übrig.

Weniger erschöpft scheint mir die oft gehörte Frage zu sein: wie der
Nothstand habe entstehen können, in einer Provinz, die als Korn¬
kammer bekannt und nichts weniger als übervölkert ist?

Schon diese Fassung der Frage läßt erkennen, daß das auswärtige
Publikum entweder die Verhältnisse und die Bedeutung des Landbaues in
unserer Provinz nicht kennt oder in der offiziösen Anschauung befangen ist,
wonach wir lediglich mit den Folgen eines durch die Ungunst der Elemente
herbeigeführten Mißwachses zu kämpfen haben. Wahr ist es: Ostpreußen
hat seit fünf Jahren vier schlechte Ernten gemacht und nur eine mittelmäßige
(1866). Aber selbst diese großen Verluste würden nicht die Noth aus eine
solche Höhe gebracht, nicht die halbe Bevölkerung der Provinz ruinirt haben,
wenn nicht ihr Wohlstand schon vorher tief erschüttert gewesen,
ihre wirthschaftliche Entwicklung seit Jahrzehnten verkümmert
wäre. Für jeden, der die Provinz kennt, muß es klar sein: Der jetzige
Wohlstand ist nur der plötzliche Ausbruch einer schleichenden
Krankheit, die seit lange an unserm Marke zehrt! Ich will ver¬
suchen, sie Ihnen nachzuweisen.

Die Provinz, die' dem preußischen Staate nicht blos ihren Namen, son¬
dern auch ihre besten Kräfte gegeben hat bis zu deren jetziger Erschöpfung,
ist von jeher sein Stiefkind gewesen. Schon der große König Friedrich II.
der das entlegene, isolirte Ostpreußen seinem Schicksal überlassen mußte,
konnte es ihm doch nie vergeben, daß es außer Stande war, sich der russi¬
schen Uebermacht zu erwehren. Kaum war dann durch den Erwerb von
Westpreußen die Provinz mit dem übrigen Staatsgebiete zu einem zusam-


Grenzbotm I. 1868. ^
Ein Brief über den Nothstand in Ostpreußen.

Sie wünschen für Ihre Zeitschrift eine Besprechung des Nothstandes in
Ostpreußen. Ihnen zu wiederholen, wie es bei uns aussieht, wäre nach
der Wuth von Berichten, welche die Tagesblätter aller Farben darüber ge¬
bracht haben, mindestens überflüssig. Uebertreibungen sind dabei vorgekom¬
men, nach beiden Seiten hin — das gebe ich bereitwillig zu. Aber leider
bleibt dazwischen noch genug, mehr als genug übrig.

Weniger erschöpft scheint mir die oft gehörte Frage zu sein: wie der
Nothstand habe entstehen können, in einer Provinz, die als Korn¬
kammer bekannt und nichts weniger als übervölkert ist?

Schon diese Fassung der Frage läßt erkennen, daß das auswärtige
Publikum entweder die Verhältnisse und die Bedeutung des Landbaues in
unserer Provinz nicht kennt oder in der offiziösen Anschauung befangen ist,
wonach wir lediglich mit den Folgen eines durch die Ungunst der Elemente
herbeigeführten Mißwachses zu kämpfen haben. Wahr ist es: Ostpreußen
hat seit fünf Jahren vier schlechte Ernten gemacht und nur eine mittelmäßige
(1866). Aber selbst diese großen Verluste würden nicht die Noth aus eine
solche Höhe gebracht, nicht die halbe Bevölkerung der Provinz ruinirt haben,
wenn nicht ihr Wohlstand schon vorher tief erschüttert gewesen,
ihre wirthschaftliche Entwicklung seit Jahrzehnten verkümmert
wäre. Für jeden, der die Provinz kennt, muß es klar sein: Der jetzige
Wohlstand ist nur der plötzliche Ausbruch einer schleichenden
Krankheit, die seit lange an unserm Marke zehrt! Ich will ver¬
suchen, sie Ihnen nachzuweisen.

Die Provinz, die' dem preußischen Staate nicht blos ihren Namen, son¬
dern auch ihre besten Kräfte gegeben hat bis zu deren jetziger Erschöpfung,
ist von jeher sein Stiefkind gewesen. Schon der große König Friedrich II.
der das entlegene, isolirte Ostpreußen seinem Schicksal überlassen mußte,
konnte es ihm doch nie vergeben, daß es außer Stande war, sich der russi¬
schen Uebermacht zu erwehren. Kaum war dann durch den Erwerb von
Westpreußen die Provinz mit dem übrigen Staatsgebiete zu einem zusam-


Grenzbotm I. 1868. ^
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[0409] Ein Brief über den Nothstand in Ostpreußen. Sie wünschen für Ihre Zeitschrift eine Besprechung des Nothstandes in Ostpreußen. Ihnen zu wiederholen, wie es bei uns aussieht, wäre nach der Wuth von Berichten, welche die Tagesblätter aller Farben darüber ge¬ bracht haben, mindestens überflüssig. Uebertreibungen sind dabei vorgekom¬ men, nach beiden Seiten hin — das gebe ich bereitwillig zu. Aber leider bleibt dazwischen noch genug, mehr als genug übrig. Weniger erschöpft scheint mir die oft gehörte Frage zu sein: wie der Nothstand habe entstehen können, in einer Provinz, die als Korn¬ kammer bekannt und nichts weniger als übervölkert ist? Schon diese Fassung der Frage läßt erkennen, daß das auswärtige Publikum entweder die Verhältnisse und die Bedeutung des Landbaues in unserer Provinz nicht kennt oder in der offiziösen Anschauung befangen ist, wonach wir lediglich mit den Folgen eines durch die Ungunst der Elemente herbeigeführten Mißwachses zu kämpfen haben. Wahr ist es: Ostpreußen hat seit fünf Jahren vier schlechte Ernten gemacht und nur eine mittelmäßige (1866). Aber selbst diese großen Verluste würden nicht die Noth aus eine solche Höhe gebracht, nicht die halbe Bevölkerung der Provinz ruinirt haben, wenn nicht ihr Wohlstand schon vorher tief erschüttert gewesen, ihre wirthschaftliche Entwicklung seit Jahrzehnten verkümmert wäre. Für jeden, der die Provinz kennt, muß es klar sein: Der jetzige Wohlstand ist nur der plötzliche Ausbruch einer schleichenden Krankheit, die seit lange an unserm Marke zehrt! Ich will ver¬ suchen, sie Ihnen nachzuweisen. Die Provinz, die' dem preußischen Staate nicht blos ihren Namen, son¬ dern auch ihre besten Kräfte gegeben hat bis zu deren jetziger Erschöpfung, ist von jeher sein Stiefkind gewesen. Schon der große König Friedrich II. der das entlegene, isolirte Ostpreußen seinem Schicksal überlassen mußte, konnte es ihm doch nie vergeben, daß es außer Stande war, sich der russi¬ schen Uebermacht zu erwehren. Kaum war dann durch den Erwerb von Westpreußen die Provinz mit dem übrigen Staatsgebiete zu einem zusam- Grenzbotm I. 1868. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/409>, abgerufen am 22.07.2024.