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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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erhalte, wenn die Compromisse mit den Südstaaten vollzogen sind, und daß
ihr Anschluß um so schwieriger werde, je weiter die speciell norddeutsche
Gesetzgebung im neuen Staat sich entwickelt.

Und daran schließt sich noch eine andere Erwägung. Wir leben in
der Revolution und wir stehen noch unter dem Eindruck der erschütternden
Ereignisse, welche vor zwei Jahren das Bestehende gebrochen haben. Noch
erscheint, was jetzt geschehen kann, als nothwendige und kaum zu verhin¬
dernde Folge einer gewaltigen Krisis. Aber die Zeit schwächt diese Em¬
pfindung; der Ruhm der preußischen Waffenthaten von 1866 wird bleiben,
das politische Gewicht derselben wird mit jedem Jahr geringer. Es liegt in
der Natur der Menschen und Staaten, daß das Bestehende Berechtigung und
die konservativen Interessen für sich gewinnt. Noch gilt die Verbindung der
Südstaaten mit dem Norden den widerwilligen Großmächten Europas, ja
sogar den Regierungen und Bürgern im Süden, für eine doch bevorstehende
Folge der nächstvergangenen Katastrophe; in Jahr und Tag wird diese Ueber¬
zeugung schwächer geworden sein, die süße Gewohnheit des unfertigen Daseins
wird ihre alte Berechtigung wiedergewinnen, die Deutschen werden in die
alte leidige Gemüthlichkeit zurückfallen, das Ausland seine Interessen im
deutschen Süden befestigt finden. Und in irgend einer künftigen Katastrophe
wird die weitergreifende Forderung des Nordhundes und der nationalen
Wünsche einen neuen Kampf mit der conservativen Stimmung der Staaten
und Völker zu übernehmen haben. Wieder würden die Preußen und Deut-
schen als Friedensstörer und Eroberungssüchtige angeklagt werden und unter
schwereren Kämpfen würde der neue große Fortschritt durchgesetzt werden
müssen. Darum gilt es, solange die Massen noch einigermaßen flüssig sind,
das Entscheidende zu thun, im Nothfall zu wagen.

Zumal gegenüber dem Auslande. Was zu verhindern im Jahre 1867
dem Kaiser Napoleon ohne tödtliche Gefahr für ihn selbst unmöglich war,
was im Jahr 1868 vielleicht noch eine Lebensfrage für ihn ist, das wird, je
weiter die Heeresorganisation in Frankreich fortschreitet, je mehr die Verhältnisse
Oestreichs sich befestigen, um so schwieriger. Noch im vorigen Jahre schien bei
einer Ausdehnung des Bundes über ganz Deutschland ernste Einmischung
des Auslandes nicht zu besorgen, jetzt betont sogar Oestreich, daß seine
Connivenz gegen den Bund nicht weiter reiche, als bis zur Mainlinie.
Selbstverständlich werden diese Prätensionen mit jedem Jahre wachsen, es ist
möglich, daß sie schon jetzt der diplomatischen Kunst die schwerste Aufgabe
stellen. Wir haben, so steht zu befürchten, nach dieser Richtung nicht gewon¬
nen, sondern verloren. Und jeder Blick auf die übrigen Großstaaten läßt erken¬
nen, daß diese Schwierigkeiten durch neue bevorstehende vergrößert werden
müssen. Es wird dem Nordbunde unmöglich sein, das alte Einvernehmen


erhalte, wenn die Compromisse mit den Südstaaten vollzogen sind, und daß
ihr Anschluß um so schwieriger werde, je weiter die speciell norddeutsche
Gesetzgebung im neuen Staat sich entwickelt.

Und daran schließt sich noch eine andere Erwägung. Wir leben in
der Revolution und wir stehen noch unter dem Eindruck der erschütternden
Ereignisse, welche vor zwei Jahren das Bestehende gebrochen haben. Noch
erscheint, was jetzt geschehen kann, als nothwendige und kaum zu verhin¬
dernde Folge einer gewaltigen Krisis. Aber die Zeit schwächt diese Em¬
pfindung; der Ruhm der preußischen Waffenthaten von 1866 wird bleiben,
das politische Gewicht derselben wird mit jedem Jahr geringer. Es liegt in
der Natur der Menschen und Staaten, daß das Bestehende Berechtigung und
die konservativen Interessen für sich gewinnt. Noch gilt die Verbindung der
Südstaaten mit dem Norden den widerwilligen Großmächten Europas, ja
sogar den Regierungen und Bürgern im Süden, für eine doch bevorstehende
Folge der nächstvergangenen Katastrophe; in Jahr und Tag wird diese Ueber¬
zeugung schwächer geworden sein, die süße Gewohnheit des unfertigen Daseins
wird ihre alte Berechtigung wiedergewinnen, die Deutschen werden in die
alte leidige Gemüthlichkeit zurückfallen, das Ausland seine Interessen im
deutschen Süden befestigt finden. Und in irgend einer künftigen Katastrophe
wird die weitergreifende Forderung des Nordhundes und der nationalen
Wünsche einen neuen Kampf mit der conservativen Stimmung der Staaten
und Völker zu übernehmen haben. Wieder würden die Preußen und Deut-
schen als Friedensstörer und Eroberungssüchtige angeklagt werden und unter
schwereren Kämpfen würde der neue große Fortschritt durchgesetzt werden
müssen. Darum gilt es, solange die Massen noch einigermaßen flüssig sind,
das Entscheidende zu thun, im Nothfall zu wagen.

Zumal gegenüber dem Auslande. Was zu verhindern im Jahre 1867
dem Kaiser Napoleon ohne tödtliche Gefahr für ihn selbst unmöglich war,
was im Jahr 1868 vielleicht noch eine Lebensfrage für ihn ist, das wird, je
weiter die Heeresorganisation in Frankreich fortschreitet, je mehr die Verhältnisse
Oestreichs sich befestigen, um so schwieriger. Noch im vorigen Jahre schien bei
einer Ausdehnung des Bundes über ganz Deutschland ernste Einmischung
des Auslandes nicht zu besorgen, jetzt betont sogar Oestreich, daß seine
Connivenz gegen den Bund nicht weiter reiche, als bis zur Mainlinie.
Selbstverständlich werden diese Prätensionen mit jedem Jahre wachsen, es ist
möglich, daß sie schon jetzt der diplomatischen Kunst die schwerste Aufgabe
stellen. Wir haben, so steht zu befürchten, nach dieser Richtung nicht gewon¬
nen, sondern verloren. Und jeder Blick auf die übrigen Großstaaten läßt erken¬
nen, daß diese Schwierigkeiten durch neue bevorstehende vergrößert werden
müssen. Es wird dem Nordbunde unmöglich sein, das alte Einvernehmen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/319>, abgerufen am 03.07.2024.