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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Häusermeer der Stadt und der Griwa (Dünavorstadt) herabsieht. Wehe
dem kühnen Pilger, der hier zu übernachten die Absicht hat. Die Bahnhöfe
enthalten keine Fremdenzimmer und die Citadelle ist jedem Privatmann wie
mit sieben Siegeln verschlossen; hat ihn die federlose Droschke des jüdischen
Factors, der er seine Glieder anvertraut, eine halbe Stunde lang durch den
Koth endloser Gäßchen und Straßen geführt, in denen schmutzige Hütten mit
gelbgetünchten Negierungsgebäuden wechseln, so hält er endlich vor einem söge-
nannten Hotel. Ein schmutziges Hofthor öffnet sich langsam knarrend und
ein schielendes altes Weib führt den Gast durch eine Welt widerwärtiger
Abfälle und Misthaufen, die den Hof erfüllen, eine dunkle Hühnersteige hin¬
auf in einen unheimlichen Corridor, dessen widrig süßer Geruch die Nähe
der Küche verräth. Im Gastzimmer, einem rauchgeschwärzten viereckigen
Raum, vor dessen mit grünlichem Glas ausgestatteten Fenstern die Sonne
ihr leuchtendes Antlitz zu verhüllen gewohnt ist, spielt ein Jnfanterieoffizier mit
dem von Fett glänzenden Marqueur Billard; an den Wänden, deren unterer
Theil mit Wanzen dicht bedeckt ist, hängen grell illuminirte schlechte Litho¬
graphien, welche den Einzug der Russen in Paris, oder die Einnahme Schumlas
verherrlichen, neben ihnen prangt das in russischer, polnischer, französischer und
deutscher Sprache verkündete Reglement für Billardspieler. Aus dem Sous-
terrain, das für die xatres minorum Molina bestimmt ist, schallen rohe in
all den landesüblichen Sprachen ausgestoßene Flüche hinauf, untermischt mit
Liebkosungen, welche dem lettischen Schenkmädchen gelten. Sie bekunden,
daß das gastliche Haus des Pan Berkovicz Raum hat und Wohnungen für
stärkungsbedürftige Vertreter der verschiedensten gesellschaftlichen Schichten.
Von den Nahrungsmitteln, welche dem Hungrigen dargeboten werden, sind
nur Thee und Eier genießbar, weil der Verfälschung und Unredlichkeit des
Kochs und Kellners unzugänglich -- Brod und Fleisch kehren, wenn der Gast,
noch nicht gehörig acclimatisirt ist, unberührt an die Stätte ihrer Entstehung
zurück. Dafür sind alle erdenklichen Schnaps- und Liqueurgattungen in bester
Qualität zu haben und selbst eine Flasche Champagner weiß der dienende
Geist zu beschaffen, wenn, er errathen hat, daß dem Consumenten vor allem
an Lebensmitteln gelegen ist, die die Luft des Landes noch nicht berührt hat.
In das Schlafzimmer geführt, geht der Gast, wenn er nur einige Divina-
tionsgabe besitzt, an dem Bett rasch vorüber, ohne dasselbe auch nur eines
Blicks zu würdigen. Er wirft sein Plaid über das Ledersopha, löscht die
qualmende Talgkerze, die ihren trüben Schimmer über das unheimliche Gemach
verbreitet hat, mühsam aus und versucht zu schlafen, was ihm selbstverständlich
nur nach Anwendung eines geheimnißvollen, die übrigen Bewohner des
Zimmers beschwörenden Pulvers gelingt. Das verdächtige Geräusch, das aus
dem Corridor und aus dem Sousterrain an sein Ohr schlägt, legt ihm, wenn


Häusermeer der Stadt und der Griwa (Dünavorstadt) herabsieht. Wehe
dem kühnen Pilger, der hier zu übernachten die Absicht hat. Die Bahnhöfe
enthalten keine Fremdenzimmer und die Citadelle ist jedem Privatmann wie
mit sieben Siegeln verschlossen; hat ihn die federlose Droschke des jüdischen
Factors, der er seine Glieder anvertraut, eine halbe Stunde lang durch den
Koth endloser Gäßchen und Straßen geführt, in denen schmutzige Hütten mit
gelbgetünchten Negierungsgebäuden wechseln, so hält er endlich vor einem söge-
nannten Hotel. Ein schmutziges Hofthor öffnet sich langsam knarrend und
ein schielendes altes Weib führt den Gast durch eine Welt widerwärtiger
Abfälle und Misthaufen, die den Hof erfüllen, eine dunkle Hühnersteige hin¬
auf in einen unheimlichen Corridor, dessen widrig süßer Geruch die Nähe
der Küche verräth. Im Gastzimmer, einem rauchgeschwärzten viereckigen
Raum, vor dessen mit grünlichem Glas ausgestatteten Fenstern die Sonne
ihr leuchtendes Antlitz zu verhüllen gewohnt ist, spielt ein Jnfanterieoffizier mit
dem von Fett glänzenden Marqueur Billard; an den Wänden, deren unterer
Theil mit Wanzen dicht bedeckt ist, hängen grell illuminirte schlechte Litho¬
graphien, welche den Einzug der Russen in Paris, oder die Einnahme Schumlas
verherrlichen, neben ihnen prangt das in russischer, polnischer, französischer und
deutscher Sprache verkündete Reglement für Billardspieler. Aus dem Sous-
terrain, das für die xatres minorum Molina bestimmt ist, schallen rohe in
all den landesüblichen Sprachen ausgestoßene Flüche hinauf, untermischt mit
Liebkosungen, welche dem lettischen Schenkmädchen gelten. Sie bekunden,
daß das gastliche Haus des Pan Berkovicz Raum hat und Wohnungen für
stärkungsbedürftige Vertreter der verschiedensten gesellschaftlichen Schichten.
Von den Nahrungsmitteln, welche dem Hungrigen dargeboten werden, sind
nur Thee und Eier genießbar, weil der Verfälschung und Unredlichkeit des
Kochs und Kellners unzugänglich — Brod und Fleisch kehren, wenn der Gast,
noch nicht gehörig acclimatisirt ist, unberührt an die Stätte ihrer Entstehung
zurück. Dafür sind alle erdenklichen Schnaps- und Liqueurgattungen in bester
Qualität zu haben und selbst eine Flasche Champagner weiß der dienende
Geist zu beschaffen, wenn, er errathen hat, daß dem Consumenten vor allem
an Lebensmitteln gelegen ist, die die Luft des Landes noch nicht berührt hat.
In das Schlafzimmer geführt, geht der Gast, wenn er nur einige Divina-
tionsgabe besitzt, an dem Bett rasch vorüber, ohne dasselbe auch nur eines
Blicks zu würdigen. Er wirft sein Plaid über das Ledersopha, löscht die
qualmende Talgkerze, die ihren trüben Schimmer über das unheimliche Gemach
verbreitet hat, mühsam aus und versucht zu schlafen, was ihm selbstverständlich
nur nach Anwendung eines geheimnißvollen, die übrigen Bewohner des
Zimmers beschwörenden Pulvers gelingt. Das verdächtige Geräusch, das aus
dem Corridor und aus dem Sousterrain an sein Ohr schlägt, legt ihm, wenn


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[0298] Häusermeer der Stadt und der Griwa (Dünavorstadt) herabsieht. Wehe dem kühnen Pilger, der hier zu übernachten die Absicht hat. Die Bahnhöfe enthalten keine Fremdenzimmer und die Citadelle ist jedem Privatmann wie mit sieben Siegeln verschlossen; hat ihn die federlose Droschke des jüdischen Factors, der er seine Glieder anvertraut, eine halbe Stunde lang durch den Koth endloser Gäßchen und Straßen geführt, in denen schmutzige Hütten mit gelbgetünchten Negierungsgebäuden wechseln, so hält er endlich vor einem söge- nannten Hotel. Ein schmutziges Hofthor öffnet sich langsam knarrend und ein schielendes altes Weib führt den Gast durch eine Welt widerwärtiger Abfälle und Misthaufen, die den Hof erfüllen, eine dunkle Hühnersteige hin¬ auf in einen unheimlichen Corridor, dessen widrig süßer Geruch die Nähe der Küche verräth. Im Gastzimmer, einem rauchgeschwärzten viereckigen Raum, vor dessen mit grünlichem Glas ausgestatteten Fenstern die Sonne ihr leuchtendes Antlitz zu verhüllen gewohnt ist, spielt ein Jnfanterieoffizier mit dem von Fett glänzenden Marqueur Billard; an den Wänden, deren unterer Theil mit Wanzen dicht bedeckt ist, hängen grell illuminirte schlechte Litho¬ graphien, welche den Einzug der Russen in Paris, oder die Einnahme Schumlas verherrlichen, neben ihnen prangt das in russischer, polnischer, französischer und deutscher Sprache verkündete Reglement für Billardspieler. Aus dem Sous- terrain, das für die xatres minorum Molina bestimmt ist, schallen rohe in all den landesüblichen Sprachen ausgestoßene Flüche hinauf, untermischt mit Liebkosungen, welche dem lettischen Schenkmädchen gelten. Sie bekunden, daß das gastliche Haus des Pan Berkovicz Raum hat und Wohnungen für stärkungsbedürftige Vertreter der verschiedensten gesellschaftlichen Schichten. Von den Nahrungsmitteln, welche dem Hungrigen dargeboten werden, sind nur Thee und Eier genießbar, weil der Verfälschung und Unredlichkeit des Kochs und Kellners unzugänglich — Brod und Fleisch kehren, wenn der Gast, noch nicht gehörig acclimatisirt ist, unberührt an die Stätte ihrer Entstehung zurück. Dafür sind alle erdenklichen Schnaps- und Liqueurgattungen in bester Qualität zu haben und selbst eine Flasche Champagner weiß der dienende Geist zu beschaffen, wenn, er errathen hat, daß dem Consumenten vor allem an Lebensmitteln gelegen ist, die die Luft des Landes noch nicht berührt hat. In das Schlafzimmer geführt, geht der Gast, wenn er nur einige Divina- tionsgabe besitzt, an dem Bett rasch vorüber, ohne dasselbe auch nur eines Blicks zu würdigen. Er wirft sein Plaid über das Ledersopha, löscht die qualmende Talgkerze, die ihren trüben Schimmer über das unheimliche Gemach verbreitet hat, mühsam aus und versucht zu schlafen, was ihm selbstverständlich nur nach Anwendung eines geheimnißvollen, die übrigen Bewohner des Zimmers beschwörenden Pulvers gelingt. Das verdächtige Geräusch, das aus dem Corridor und aus dem Sousterrain an sein Ohr schlägt, legt ihm, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/298>, abgerufen am 05.02.2025.