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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Verzicht auf die Lesekunst zu wählen. Kein Wunder, daß die Schenken im¬
mer größere Anziehungskraft gewinnen und daß ihre Anzahl zum Heil der
in die Staatskasse fließenden Branntweinaccise beständig zunimmt. -- Zwischen
den Polen, Letten, Juden und Russen, wie sie uns in den Schenken an der
Reschizaer Straße begegnen, findet sich noch der litthauische Bettler, der, in
schmutzige Lumpen gehüllt, rings das Land durchstreift, unaufhörlich die Me¬
lodie jenes schwermüthigen Liedes wiederholend, dessen ominöser Refrain


"Schade, daß die schöne Sonne
Auch zu uns von Osten kommt"

dem Reisenden in allen litthauisch-polnischen Ländern unfehlbar anklingt --
und endlich der Zigeuner, der den jüdischen Pferdehändlern als unvergleichlicher
Pferdedieb gefährliche Concurrenz macht, übrigens nur im Winter das
schützende Dach des Kruges aufzusuchen pflegt, den Sommer über mit Weib
und Kind in Busch und Brach seine Zelte und Wagenburgen aufschlägt.
Die Gesetzlosigkeit der infländischen Zustände läßt namentlich den an Kur-
und Livland grenzenden westlichen Winkel dieses Landes allen Vagabunden
und Gaunern des Dünathals als Paradies erscheinen, und selbst in der Um¬
gegend der von Kanonen starrenden Festung Dünaburg ist die Unsicherheit
so groß, daß der oberländische Gutsbesitzer, wenn er nachts durch den Wald
reitet, einen Revolver in den Sattel steckt und während der dunklen Herbst¬
nächte ein paar beurlaubte Kosacken willig macht, sein Haus und seine Wirth¬
schaftsgebäude vor den Wegelagerern, die aus Instand hinüberkommen, zu be¬
wachen. Sogar für das dreißig Meilen weiter nach Westen, in Riga und
dessen Umgebung gestohlene Gut haben seit Eröffnung der Riga-Dünaburger
Eisenbahn die Diebshöhlen Dünaburgs und seiner Nachbarflecken eine magische
Anziehungskraft, und die livländischen Polizeibehörden wissen aus uralter Er¬
fahrung, daß die Diebsspuren, die nach polnisch Livland führen, am Eingang
der Thore von Dünaburg, Kresslav oder Drissa mit einem undurchdringlichen
Schleier bedeckt werden, den höchstens der Machtspruch eines mächtigen General¬
gouverneurs, niemals aber die Requisition der ordinären Behörde zu lüften
vermag.

Schwach bevölkert und schlecht angebaut bieten die Ebenen, welche sich vom
Dünaufer nördlich nach Pleskau, östlich nach Witepsk dehnen, selbst in der
schönen Jahreszeit einen trostlosen Eindruck. Wo sich das Dunkel der Wälder
lichtet, welche zum Lubahnschen See hin wahrhaft unzugänglich werden
und in denen noch das Elenn, der zottige Bär und der grimme Wolf Hausen,
wechseln schmutzige Bauerhäuser mit großangelegten Edelhöfen, deren "schä¬
bige Gentilität" von dem abnehmenden Wohlstand des durch die plötzliche
Aufhebung der bäuerlichen Lasten schwer getroffenen Adels Zeugniß ablegt.


Verzicht auf die Lesekunst zu wählen. Kein Wunder, daß die Schenken im¬
mer größere Anziehungskraft gewinnen und daß ihre Anzahl zum Heil der
in die Staatskasse fließenden Branntweinaccise beständig zunimmt. — Zwischen
den Polen, Letten, Juden und Russen, wie sie uns in den Schenken an der
Reschizaer Straße begegnen, findet sich noch der litthauische Bettler, der, in
schmutzige Lumpen gehüllt, rings das Land durchstreift, unaufhörlich die Me¬
lodie jenes schwermüthigen Liedes wiederholend, dessen ominöser Refrain


„Schade, daß die schöne Sonne
Auch zu uns von Osten kommt"

dem Reisenden in allen litthauisch-polnischen Ländern unfehlbar anklingt —
und endlich der Zigeuner, der den jüdischen Pferdehändlern als unvergleichlicher
Pferdedieb gefährliche Concurrenz macht, übrigens nur im Winter das
schützende Dach des Kruges aufzusuchen pflegt, den Sommer über mit Weib
und Kind in Busch und Brach seine Zelte und Wagenburgen aufschlägt.
Die Gesetzlosigkeit der infländischen Zustände läßt namentlich den an Kur-
und Livland grenzenden westlichen Winkel dieses Landes allen Vagabunden
und Gaunern des Dünathals als Paradies erscheinen, und selbst in der Um¬
gegend der von Kanonen starrenden Festung Dünaburg ist die Unsicherheit
so groß, daß der oberländische Gutsbesitzer, wenn er nachts durch den Wald
reitet, einen Revolver in den Sattel steckt und während der dunklen Herbst¬
nächte ein paar beurlaubte Kosacken willig macht, sein Haus und seine Wirth¬
schaftsgebäude vor den Wegelagerern, die aus Instand hinüberkommen, zu be¬
wachen. Sogar für das dreißig Meilen weiter nach Westen, in Riga und
dessen Umgebung gestohlene Gut haben seit Eröffnung der Riga-Dünaburger
Eisenbahn die Diebshöhlen Dünaburgs und seiner Nachbarflecken eine magische
Anziehungskraft, und die livländischen Polizeibehörden wissen aus uralter Er¬
fahrung, daß die Diebsspuren, die nach polnisch Livland führen, am Eingang
der Thore von Dünaburg, Kresslav oder Drissa mit einem undurchdringlichen
Schleier bedeckt werden, den höchstens der Machtspruch eines mächtigen General¬
gouverneurs, niemals aber die Requisition der ordinären Behörde zu lüften
vermag.

Schwach bevölkert und schlecht angebaut bieten die Ebenen, welche sich vom
Dünaufer nördlich nach Pleskau, östlich nach Witepsk dehnen, selbst in der
schönen Jahreszeit einen trostlosen Eindruck. Wo sich das Dunkel der Wälder
lichtet, welche zum Lubahnschen See hin wahrhaft unzugänglich werden
und in denen noch das Elenn, der zottige Bär und der grimme Wolf Hausen,
wechseln schmutzige Bauerhäuser mit großangelegten Edelhöfen, deren »schä¬
bige Gentilität" von dem abnehmenden Wohlstand des durch die plötzliche
Aufhebung der bäuerlichen Lasten schwer getroffenen Adels Zeugniß ablegt.


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[0296] Verzicht auf die Lesekunst zu wählen. Kein Wunder, daß die Schenken im¬ mer größere Anziehungskraft gewinnen und daß ihre Anzahl zum Heil der in die Staatskasse fließenden Branntweinaccise beständig zunimmt. — Zwischen den Polen, Letten, Juden und Russen, wie sie uns in den Schenken an der Reschizaer Straße begegnen, findet sich noch der litthauische Bettler, der, in schmutzige Lumpen gehüllt, rings das Land durchstreift, unaufhörlich die Me¬ lodie jenes schwermüthigen Liedes wiederholend, dessen ominöser Refrain „Schade, daß die schöne Sonne Auch zu uns von Osten kommt" dem Reisenden in allen litthauisch-polnischen Ländern unfehlbar anklingt — und endlich der Zigeuner, der den jüdischen Pferdehändlern als unvergleichlicher Pferdedieb gefährliche Concurrenz macht, übrigens nur im Winter das schützende Dach des Kruges aufzusuchen pflegt, den Sommer über mit Weib und Kind in Busch und Brach seine Zelte und Wagenburgen aufschlägt. Die Gesetzlosigkeit der infländischen Zustände läßt namentlich den an Kur- und Livland grenzenden westlichen Winkel dieses Landes allen Vagabunden und Gaunern des Dünathals als Paradies erscheinen, und selbst in der Um¬ gegend der von Kanonen starrenden Festung Dünaburg ist die Unsicherheit so groß, daß der oberländische Gutsbesitzer, wenn er nachts durch den Wald reitet, einen Revolver in den Sattel steckt und während der dunklen Herbst¬ nächte ein paar beurlaubte Kosacken willig macht, sein Haus und seine Wirth¬ schaftsgebäude vor den Wegelagerern, die aus Instand hinüberkommen, zu be¬ wachen. Sogar für das dreißig Meilen weiter nach Westen, in Riga und dessen Umgebung gestohlene Gut haben seit Eröffnung der Riga-Dünaburger Eisenbahn die Diebshöhlen Dünaburgs und seiner Nachbarflecken eine magische Anziehungskraft, und die livländischen Polizeibehörden wissen aus uralter Er¬ fahrung, daß die Diebsspuren, die nach polnisch Livland führen, am Eingang der Thore von Dünaburg, Kresslav oder Drissa mit einem undurchdringlichen Schleier bedeckt werden, den höchstens der Machtspruch eines mächtigen General¬ gouverneurs, niemals aber die Requisition der ordinären Behörde zu lüften vermag. Schwach bevölkert und schlecht angebaut bieten die Ebenen, welche sich vom Dünaufer nördlich nach Pleskau, östlich nach Witepsk dehnen, selbst in der schönen Jahreszeit einen trostlosen Eindruck. Wo sich das Dunkel der Wälder lichtet, welche zum Lubahnschen See hin wahrhaft unzugänglich werden und in denen noch das Elenn, der zottige Bär und der grimme Wolf Hausen, wechseln schmutzige Bauerhäuser mit großangelegten Edelhöfen, deren »schä¬ bige Gentilität" von dem abnehmenden Wohlstand des durch die plötzliche Aufhebung der bäuerlichen Lasten schwer getroffenen Adels Zeugniß ablegt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/296>, abgerufen am 05.02.2025.