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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Schmack aus dem Munde nehmen solle, welchen das Herz Guillems darin
zurückgelassen hätte. Naimon lies auf sie ein mit dem Schwerte, aber sie
stürzte sich fliehend von einem Balkon und brach den Hals. Diese Unthat
wurde bekannt in ganz Catalonien und in allen Ländern des Königs von
Aragon. Und bei dem König Alfons und bei allen Baronen dieser Gegenden
war großer Jammer und Trauer über das Ende Guillems und der Dame
und daß Naimon sie so schmählich getödtet hatte. Und es verbanden sich
die Verwandten des Herrn Guillen und die Verwandten der Dame und alle
Liebenden, und bekriegten Naimon mit Feuer und Blut. Und König Alfons
von Aragon kam in jene Gegend als er ihren Tod erfuhr und nahm Nai¬
mon gefangen und verheerte ihm seine Burgen und Länder. Und er ließ
Guillen und die Dame in ein Grab legen vor der Thüre der Kirche zu
Perpignan. einem Dorf, das in der Ebene von Noussillon und Cerdagne
liegt und dem König von Aragon gehört. Und eine Zeit lang begingen
alle Ritter von Noussillon und Cerdagne und von Rinples und Peiralaide
und von Narbonnes ihr Jahresgedächtniß und alle treuen Liebenden baten
Gott für ihre Seelen. Und der König von Aragon nahm Naimon gefangen
und entsetzte ihn und ließ ihn in der Gefangenschaft sterben und gab alle
seine Besitzungen den Verwandten des Herrn Guillen und den Verwandten
der Dame, die durch ihn gestorben war. Und das Dorf, in dem die beiden
Liebenden begraben waren, hat den Namen Perpignan.

Wir besitzen über des Dichters Leben noch eine andere kürzere und ein¬
fachere Version, welche in manchen nicht unwesentlichen Punkten von der obi¬
gen abweicht. Sie weiß zunächst nichts von einem dienstlichen Verhältniß
Guillems zum Grafen von Noussillon, nennt ihn einen gerens eastellas,
einen vornehmen Burgherrn, den die Gattin Raimons, Sermonda, wie sie
hier heißt, zu ihrem Ritter erwählt. Nach einer langen glücklichen Liebeszeit
faßt endlich der getäuschte Gemahl Mißtrauen und sperrt nun die Dame
ohne weiteres in einen Thurm, wie er denn ein stolzer und böser Herr ge¬
nannt wird. Aus Kummer hierüber dichtet Guillen die Canzone "1,0 äous
eossire", "das süße Sinnen", und aus einer Stelle, die ebenfalls ausdrücklich
genannt wird und welche lautet: "Alles, was ich aus Furcht thue, müßt Ihr
aus gutem Glauben aufnehmen, auch wenn Ihr nicht gegenwärtig seid,"
erkennt Raimon, daß'die Canzone an seine Gattin gerichtet ist. Die Rache
des Beleidigten sowie seine Bestrafung und die ehrenvolle Bestattung der
Liebenden folgt in fast wörtlicher Uebereinstimmung; die Episode von dem
Schlosse Lied fehlt ganz. -- Es war mir auf den ersten Blick ersichtlich, daß
die in beiden Lebensnachrichten angeführte Canzone, welche.uns übrigens
erhalten ist, und auf die ich im weitern Verlaufe zurückkommen werde,
zu der ausführlicheren Version besser oder eigentlich zu ihr allein paßt. Zu-


Schmack aus dem Munde nehmen solle, welchen das Herz Guillems darin
zurückgelassen hätte. Naimon lies auf sie ein mit dem Schwerte, aber sie
stürzte sich fliehend von einem Balkon und brach den Hals. Diese Unthat
wurde bekannt in ganz Catalonien und in allen Ländern des Königs von
Aragon. Und bei dem König Alfons und bei allen Baronen dieser Gegenden
war großer Jammer und Trauer über das Ende Guillems und der Dame
und daß Naimon sie so schmählich getödtet hatte. Und es verbanden sich
die Verwandten des Herrn Guillen und die Verwandten der Dame und alle
Liebenden, und bekriegten Naimon mit Feuer und Blut. Und König Alfons
von Aragon kam in jene Gegend als er ihren Tod erfuhr und nahm Nai¬
mon gefangen und verheerte ihm seine Burgen und Länder. Und er ließ
Guillen und die Dame in ein Grab legen vor der Thüre der Kirche zu
Perpignan. einem Dorf, das in der Ebene von Noussillon und Cerdagne
liegt und dem König von Aragon gehört. Und eine Zeit lang begingen
alle Ritter von Noussillon und Cerdagne und von Rinples und Peiralaide
und von Narbonnes ihr Jahresgedächtniß und alle treuen Liebenden baten
Gott für ihre Seelen. Und der König von Aragon nahm Naimon gefangen
und entsetzte ihn und ließ ihn in der Gefangenschaft sterben und gab alle
seine Besitzungen den Verwandten des Herrn Guillen und den Verwandten
der Dame, die durch ihn gestorben war. Und das Dorf, in dem die beiden
Liebenden begraben waren, hat den Namen Perpignan.

Wir besitzen über des Dichters Leben noch eine andere kürzere und ein¬
fachere Version, welche in manchen nicht unwesentlichen Punkten von der obi¬
gen abweicht. Sie weiß zunächst nichts von einem dienstlichen Verhältniß
Guillems zum Grafen von Noussillon, nennt ihn einen gerens eastellas,
einen vornehmen Burgherrn, den die Gattin Raimons, Sermonda, wie sie
hier heißt, zu ihrem Ritter erwählt. Nach einer langen glücklichen Liebeszeit
faßt endlich der getäuschte Gemahl Mißtrauen und sperrt nun die Dame
ohne weiteres in einen Thurm, wie er denn ein stolzer und böser Herr ge¬
nannt wird. Aus Kummer hierüber dichtet Guillen die Canzone „1,0 äous
eossire", „das süße Sinnen", und aus einer Stelle, die ebenfalls ausdrücklich
genannt wird und welche lautet: „Alles, was ich aus Furcht thue, müßt Ihr
aus gutem Glauben aufnehmen, auch wenn Ihr nicht gegenwärtig seid,"
erkennt Raimon, daß'die Canzone an seine Gattin gerichtet ist. Die Rache
des Beleidigten sowie seine Bestrafung und die ehrenvolle Bestattung der
Liebenden folgt in fast wörtlicher Uebereinstimmung; die Episode von dem
Schlosse Lied fehlt ganz. — Es war mir auf den ersten Blick ersichtlich, daß
die in beiden Lebensnachrichten angeführte Canzone, welche.uns übrigens
erhalten ist, und auf die ich im weitern Verlaufe zurückkommen werde,
zu der ausführlicheren Version besser oder eigentlich zu ihr allein paßt. Zu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/266>, abgerufen am 24.08.2024.