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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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anderes Preußen mit den Reminiscenzen eines selbstmörderischen Conflicts, mit
bureaukratisch-geheimräthlichen Traditionen, mit mangelhaft entwickeltem Pro-
vinzial-, Kreis- und Communalleben und ausgesprochen partikularen Eigen¬
thümlichkeiten gebe, daß dieselben Männer, welche auf dem Reichstage die
Schöpfer einer neuen Ordnung der Dinge gewesen, sich in den gegebenen Rahmen
dieses Staats zu schicken und ihre vielleicht mehr in tüWi als in praxi über¬
wundene Stammeseigenthümlichkeit nicht gegen ein deutsches Bewußtsein, son-
dern gegen eine Existenzform auszutauschen hätten, die ihnen nur sür eine
neue Art von "Partikularismus" galt -- das alles mußte jedem, der der Ent¬
wicklung der letzten Jahre gefolgt war, beim Zusammentritt des Landtags
der preußischen Monarchie die Ueberzeugung nahe legen, daß es sich um eine
zweite Probe der Haltbarkeit und Lebensfähigkeit der neugeschaffenen Ver¬
hältnisse handle, welche die erste vielfach an Wichtigkeit überrage. Die mate¬
rielle Differenz zwischen den Existenzbedingungen des preußischen Parlaments
und denen des Reichstags repräsentiere gleichsam die Summe dessen, was die
preußische Entwicklung der letzten Jahrzehnte Deutschland und der nationalen
Sache schuldig geblieben war.

Nirgend mag die Empfindung für die Schwierigkeiten, deren Ueberwin¬
dung es seit dem November vorigen Jahres galt, verschärfter und deutlicher
vorhanden gewesen sein, als im Schooß der nationalliberalen Partei. Der
feste Boden, auf welchem dieselbe im Reichstag gestanden hatte, fehlte ihr in
dem Abgeordnetenhaus? des preußischen Landtags beinahe vollständig. Aus
Compromissen zu Stande gekommen, war ihre raison ä'cers von Hause aus
in Berlin, Königsberg, Breslau, Stettin u. s. w. eine andere gewesen-, wie
in Kassel, Hannover oder Wiesbaden; hier stand man zunächst der süßen
Gewohnheit kleinstaatlichen Daseins kampfgerüstet gegenüber, dort hatte man
es mit der Allgewalt der demokratischen Doctrin zu thun und mit einer Re¬
gierung, die wesentlich an der inneren Politik der Conflictsjahre festhielt.
Und noch mehr: selbst unter den altpreußischen Gliedern der Partei waren vielfach
verschiedene Ansichten darüber herrschend, wie man sich zu den Fragen des innern
und äußern Staatslebens, zu der Regierung und dem leitenden Minister, zu den
Gegnern und ehemaligen Freunden aus der linken Seite des Hauses zu verhalten
habe. Die Einen sahen sich als Glieder der Fortschrittspartei an, welche nur
bezüglich der deutschen Frage von den Waldeck, Schulze, Löwe :c. differirten, die
Anderen standen mehr oder minder auf dem Standpunkt des Altliberalis¬
mus und wollten mit einem großen Theil der Traditionen von 1864 und
1865 förmlich gebrochen wissen; wieder Andere stellten sich einzig darum aus
den Boden der neuen Thatsachen, weil sie kein anderes Mittel kannten, um
dem Liberalismus resp, der Demokratie Antheil an einer Neugestaltung
Deutschlands zu sichern, welche sich nicht mehr ändern ließ. Bereits der zu


anderes Preußen mit den Reminiscenzen eines selbstmörderischen Conflicts, mit
bureaukratisch-geheimräthlichen Traditionen, mit mangelhaft entwickeltem Pro-
vinzial-, Kreis- und Communalleben und ausgesprochen partikularen Eigen¬
thümlichkeiten gebe, daß dieselben Männer, welche auf dem Reichstage die
Schöpfer einer neuen Ordnung der Dinge gewesen, sich in den gegebenen Rahmen
dieses Staats zu schicken und ihre vielleicht mehr in tüWi als in praxi über¬
wundene Stammeseigenthümlichkeit nicht gegen ein deutsches Bewußtsein, son-
dern gegen eine Existenzform auszutauschen hätten, die ihnen nur sür eine
neue Art von „Partikularismus" galt — das alles mußte jedem, der der Ent¬
wicklung der letzten Jahre gefolgt war, beim Zusammentritt des Landtags
der preußischen Monarchie die Ueberzeugung nahe legen, daß es sich um eine
zweite Probe der Haltbarkeit und Lebensfähigkeit der neugeschaffenen Ver¬
hältnisse handle, welche die erste vielfach an Wichtigkeit überrage. Die mate¬
rielle Differenz zwischen den Existenzbedingungen des preußischen Parlaments
und denen des Reichstags repräsentiere gleichsam die Summe dessen, was die
preußische Entwicklung der letzten Jahrzehnte Deutschland und der nationalen
Sache schuldig geblieben war.

Nirgend mag die Empfindung für die Schwierigkeiten, deren Ueberwin¬
dung es seit dem November vorigen Jahres galt, verschärfter und deutlicher
vorhanden gewesen sein, als im Schooß der nationalliberalen Partei. Der
feste Boden, auf welchem dieselbe im Reichstag gestanden hatte, fehlte ihr in
dem Abgeordnetenhaus? des preußischen Landtags beinahe vollständig. Aus
Compromissen zu Stande gekommen, war ihre raison ä'cers von Hause aus
in Berlin, Königsberg, Breslau, Stettin u. s. w. eine andere gewesen-, wie
in Kassel, Hannover oder Wiesbaden; hier stand man zunächst der süßen
Gewohnheit kleinstaatlichen Daseins kampfgerüstet gegenüber, dort hatte man
es mit der Allgewalt der demokratischen Doctrin zu thun und mit einer Re¬
gierung, die wesentlich an der inneren Politik der Conflictsjahre festhielt.
Und noch mehr: selbst unter den altpreußischen Gliedern der Partei waren vielfach
verschiedene Ansichten darüber herrschend, wie man sich zu den Fragen des innern
und äußern Staatslebens, zu der Regierung und dem leitenden Minister, zu den
Gegnern und ehemaligen Freunden aus der linken Seite des Hauses zu verhalten
habe. Die Einen sahen sich als Glieder der Fortschrittspartei an, welche nur
bezüglich der deutschen Frage von den Waldeck, Schulze, Löwe :c. differirten, die
Anderen standen mehr oder minder auf dem Standpunkt des Altliberalis¬
mus und wollten mit einem großen Theil der Traditionen von 1864 und
1865 förmlich gebrochen wissen; wieder Andere stellten sich einzig darum aus
den Boden der neuen Thatsachen, weil sie kein anderes Mittel kannten, um
dem Liberalismus resp, der Demokratie Antheil an einer Neugestaltung
Deutschlands zu sichern, welche sich nicht mehr ändern ließ. Bereits der zu


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[0250] anderes Preußen mit den Reminiscenzen eines selbstmörderischen Conflicts, mit bureaukratisch-geheimräthlichen Traditionen, mit mangelhaft entwickeltem Pro- vinzial-, Kreis- und Communalleben und ausgesprochen partikularen Eigen¬ thümlichkeiten gebe, daß dieselben Männer, welche auf dem Reichstage die Schöpfer einer neuen Ordnung der Dinge gewesen, sich in den gegebenen Rahmen dieses Staats zu schicken und ihre vielleicht mehr in tüWi als in praxi über¬ wundene Stammeseigenthümlichkeit nicht gegen ein deutsches Bewußtsein, son- dern gegen eine Existenzform auszutauschen hätten, die ihnen nur sür eine neue Art von „Partikularismus" galt — das alles mußte jedem, der der Ent¬ wicklung der letzten Jahre gefolgt war, beim Zusammentritt des Landtags der preußischen Monarchie die Ueberzeugung nahe legen, daß es sich um eine zweite Probe der Haltbarkeit und Lebensfähigkeit der neugeschaffenen Ver¬ hältnisse handle, welche die erste vielfach an Wichtigkeit überrage. Die mate¬ rielle Differenz zwischen den Existenzbedingungen des preußischen Parlaments und denen des Reichstags repräsentiere gleichsam die Summe dessen, was die preußische Entwicklung der letzten Jahrzehnte Deutschland und der nationalen Sache schuldig geblieben war. Nirgend mag die Empfindung für die Schwierigkeiten, deren Ueberwin¬ dung es seit dem November vorigen Jahres galt, verschärfter und deutlicher vorhanden gewesen sein, als im Schooß der nationalliberalen Partei. Der feste Boden, auf welchem dieselbe im Reichstag gestanden hatte, fehlte ihr in dem Abgeordnetenhaus? des preußischen Landtags beinahe vollständig. Aus Compromissen zu Stande gekommen, war ihre raison ä'cers von Hause aus in Berlin, Königsberg, Breslau, Stettin u. s. w. eine andere gewesen-, wie in Kassel, Hannover oder Wiesbaden; hier stand man zunächst der süßen Gewohnheit kleinstaatlichen Daseins kampfgerüstet gegenüber, dort hatte man es mit der Allgewalt der demokratischen Doctrin zu thun und mit einer Re¬ gierung, die wesentlich an der inneren Politik der Conflictsjahre festhielt. Und noch mehr: selbst unter den altpreußischen Gliedern der Partei waren vielfach verschiedene Ansichten darüber herrschend, wie man sich zu den Fragen des innern und äußern Staatslebens, zu der Regierung und dem leitenden Minister, zu den Gegnern und ehemaligen Freunden aus der linken Seite des Hauses zu verhalten habe. Die Einen sahen sich als Glieder der Fortschrittspartei an, welche nur bezüglich der deutschen Frage von den Waldeck, Schulze, Löwe :c. differirten, die Anderen standen mehr oder minder auf dem Standpunkt des Altliberalis¬ mus und wollten mit einem großen Theil der Traditionen von 1864 und 1865 förmlich gebrochen wissen; wieder Andere stellten sich einzig darum aus den Boden der neuen Thatsachen, weil sie kein anderes Mittel kannten, um dem Liberalismus resp, der Demokratie Antheil an einer Neugestaltung Deutschlands zu sichern, welche sich nicht mehr ändern ließ. Bereits der zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/250>, abgerufen am 22.07.2024.