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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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selbst oft gesehn, daß die Fuhrleute die Zügel ihrer Gespanne schüttelten,
ohne sich dieses erklären zu können, bis ihn ein kundiger Freund belehrt
habe, daß es zur Ermunterung der Pferde geschehe. Das Geschlecht der
Gelehrten, die so ganz in Bücherstudien lebten und webten, ist allmäh¬
lich ausgestorben, und wie ihre Vorzüge seltner zu finden sind als ehedem,
so ist die Fähigkeit, sich in die Zustände, Sitten und Gebräuche der alten
Welt zu versetzen, allgemeiner geworden. Auch in Nebendingen ist man
überall eifrig und mit Erfolg bemüht, die möglichste Genauigkeit und Rich¬
tigkeit der Anschauung zu erreichen. Marquardt hat sich z. B. nicht begnügt,
das Obergewand der Römerinnen, die Palla, nach weiblichen Gewandstatuen
zu beschreiben, sondern er hat sie mit Hilfe eines Malers in oatura drapirt;
er hat die Angabe, daß die Wurfknöchel gewöhnlicher auf eine der breiten
Längenseiten zu stehn kamen, als auf die volle schmale, am seltensten auf die
eingedrückte schmale Seite, durch eigene Versuche geprüft und dergleichen.
Dabei besitzt er in einem bei Gelehrten gewiß seltenen Grade und Umfange
Kenntniß der Handwerke, Fabrikationen und Industrien und der dabei in
Anwendung kommenden technischen Thätigkeiten und Methoden.

Man würde aber sehr irren, wenn man in diesem Buche nichts weiter
erwartete, als eine Beschreibung der Äußerlichkeiten der römischen In¬
dustrie. Der Verfasser faßt überall die Fülle der Einzelheiten zu Gesammtan-
schauungen zusammen, die sich leicht einprägen, er hebt die Beziehungen des
antiken Handwerks und Gewerbes zu der gesammten antiken Cultur hervor,
weist auf die Verschiedenheit zwischen Alterthum und Neuzeit in diesen Ge¬
bieten hin, und eröffnet durch eine im besten Sinne des Worts geistvolle
Auffassung d'em Lehrer oft überraschende Perspektiven. Endlich ist die Form
ebenso geschmackvoll als der Inhalt gediegen. Die anspruchslose Darstellung
die durch die Natur eines Handbuchs bedingt ist, wird niemals trocken, die
schwierig einzuhaltende Grenze zwischen Ueberfluß und Magerkeit des Mate¬
rials nirgend überschritten, der gebildete Laie findet nicht weniger, der sach¬
kundige Leser nicht mehr als erj bedarf und wünscht. Die für ein Handbuch
gewiß allein richtige Methode, die Belege der Darstellung vollständig zu geben,
aber unter den Text zu verweisen, setzt jeden Leser, dem es um wirkliche Be¬
lehrung zu thun ist, in den Stand, sich über die Gegenstände rasch zu orien-
tiren und die Resultate mühevoller und complicirter Untersuchungen leicht
anzueignen. Auch ist es gewiß ein Vorzug des Buchs, daß der Verfasser
sich aller Polemik enthalten hat.

Um nun auch einige Proben zu geben, wählen wir zuerst aus dem Ab¬
schnitt über die Nahrung, die Besprechung der Weincultur. Die eigentliche
Weincultur war in Italien weit jünger als der freilich auch schon unter den
Königen dort vorhandene Oelbau, und erst seit der Zeit in Aufnahme ge-


selbst oft gesehn, daß die Fuhrleute die Zügel ihrer Gespanne schüttelten,
ohne sich dieses erklären zu können, bis ihn ein kundiger Freund belehrt
habe, daß es zur Ermunterung der Pferde geschehe. Das Geschlecht der
Gelehrten, die so ganz in Bücherstudien lebten und webten, ist allmäh¬
lich ausgestorben, und wie ihre Vorzüge seltner zu finden sind als ehedem,
so ist die Fähigkeit, sich in die Zustände, Sitten und Gebräuche der alten
Welt zu versetzen, allgemeiner geworden. Auch in Nebendingen ist man
überall eifrig und mit Erfolg bemüht, die möglichste Genauigkeit und Rich¬
tigkeit der Anschauung zu erreichen. Marquardt hat sich z. B. nicht begnügt,
das Obergewand der Römerinnen, die Palla, nach weiblichen Gewandstatuen
zu beschreiben, sondern er hat sie mit Hilfe eines Malers in oatura drapirt;
er hat die Angabe, daß die Wurfknöchel gewöhnlicher auf eine der breiten
Längenseiten zu stehn kamen, als auf die volle schmale, am seltensten auf die
eingedrückte schmale Seite, durch eigene Versuche geprüft und dergleichen.
Dabei besitzt er in einem bei Gelehrten gewiß seltenen Grade und Umfange
Kenntniß der Handwerke, Fabrikationen und Industrien und der dabei in
Anwendung kommenden technischen Thätigkeiten und Methoden.

Man würde aber sehr irren, wenn man in diesem Buche nichts weiter
erwartete, als eine Beschreibung der Äußerlichkeiten der römischen In¬
dustrie. Der Verfasser faßt überall die Fülle der Einzelheiten zu Gesammtan-
schauungen zusammen, die sich leicht einprägen, er hebt die Beziehungen des
antiken Handwerks und Gewerbes zu der gesammten antiken Cultur hervor,
weist auf die Verschiedenheit zwischen Alterthum und Neuzeit in diesen Ge¬
bieten hin, und eröffnet durch eine im besten Sinne des Worts geistvolle
Auffassung d'em Lehrer oft überraschende Perspektiven. Endlich ist die Form
ebenso geschmackvoll als der Inhalt gediegen. Die anspruchslose Darstellung
die durch die Natur eines Handbuchs bedingt ist, wird niemals trocken, die
schwierig einzuhaltende Grenze zwischen Ueberfluß und Magerkeit des Mate¬
rials nirgend überschritten, der gebildete Laie findet nicht weniger, der sach¬
kundige Leser nicht mehr als erj bedarf und wünscht. Die für ein Handbuch
gewiß allein richtige Methode, die Belege der Darstellung vollständig zu geben,
aber unter den Text zu verweisen, setzt jeden Leser, dem es um wirkliche Be¬
lehrung zu thun ist, in den Stand, sich über die Gegenstände rasch zu orien-
tiren und die Resultate mühevoller und complicirter Untersuchungen leicht
anzueignen. Auch ist es gewiß ein Vorzug des Buchs, daß der Verfasser
sich aller Polemik enthalten hat.

Um nun auch einige Proben zu geben, wählen wir zuerst aus dem Ab¬
schnitt über die Nahrung, die Besprechung der Weincultur. Die eigentliche
Weincultur war in Italien weit jünger als der freilich auch schon unter den
Königen dort vorhandene Oelbau, und erst seit der Zeit in Aufnahme ge-


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[0212] selbst oft gesehn, daß die Fuhrleute die Zügel ihrer Gespanne schüttelten, ohne sich dieses erklären zu können, bis ihn ein kundiger Freund belehrt habe, daß es zur Ermunterung der Pferde geschehe. Das Geschlecht der Gelehrten, die so ganz in Bücherstudien lebten und webten, ist allmäh¬ lich ausgestorben, und wie ihre Vorzüge seltner zu finden sind als ehedem, so ist die Fähigkeit, sich in die Zustände, Sitten und Gebräuche der alten Welt zu versetzen, allgemeiner geworden. Auch in Nebendingen ist man überall eifrig und mit Erfolg bemüht, die möglichste Genauigkeit und Rich¬ tigkeit der Anschauung zu erreichen. Marquardt hat sich z. B. nicht begnügt, das Obergewand der Römerinnen, die Palla, nach weiblichen Gewandstatuen zu beschreiben, sondern er hat sie mit Hilfe eines Malers in oatura drapirt; er hat die Angabe, daß die Wurfknöchel gewöhnlicher auf eine der breiten Längenseiten zu stehn kamen, als auf die volle schmale, am seltensten auf die eingedrückte schmale Seite, durch eigene Versuche geprüft und dergleichen. Dabei besitzt er in einem bei Gelehrten gewiß seltenen Grade und Umfange Kenntniß der Handwerke, Fabrikationen und Industrien und der dabei in Anwendung kommenden technischen Thätigkeiten und Methoden. Man würde aber sehr irren, wenn man in diesem Buche nichts weiter erwartete, als eine Beschreibung der Äußerlichkeiten der römischen In¬ dustrie. Der Verfasser faßt überall die Fülle der Einzelheiten zu Gesammtan- schauungen zusammen, die sich leicht einprägen, er hebt die Beziehungen des antiken Handwerks und Gewerbes zu der gesammten antiken Cultur hervor, weist auf die Verschiedenheit zwischen Alterthum und Neuzeit in diesen Ge¬ bieten hin, und eröffnet durch eine im besten Sinne des Worts geistvolle Auffassung d'em Lehrer oft überraschende Perspektiven. Endlich ist die Form ebenso geschmackvoll als der Inhalt gediegen. Die anspruchslose Darstellung die durch die Natur eines Handbuchs bedingt ist, wird niemals trocken, die schwierig einzuhaltende Grenze zwischen Ueberfluß und Magerkeit des Mate¬ rials nirgend überschritten, der gebildete Laie findet nicht weniger, der sach¬ kundige Leser nicht mehr als erj bedarf und wünscht. Die für ein Handbuch gewiß allein richtige Methode, die Belege der Darstellung vollständig zu geben, aber unter den Text zu verweisen, setzt jeden Leser, dem es um wirkliche Be¬ lehrung zu thun ist, in den Stand, sich über die Gegenstände rasch zu orien- tiren und die Resultate mühevoller und complicirter Untersuchungen leicht anzueignen. Auch ist es gewiß ein Vorzug des Buchs, daß der Verfasser sich aller Polemik enthalten hat. Um nun auch einige Proben zu geben, wählen wir zuerst aus dem Ab¬ schnitt über die Nahrung, die Besprechung der Weincultur. Die eigentliche Weincultur war in Italien weit jünger als der freilich auch schon unter den Königen dort vorhandene Oelbau, und erst seit der Zeit in Aufnahme ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/212>, abgerufen am 24.08.2024.