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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Platz mehr findet, wo die Grundlagen des Staatslebens nicht mehr in un¬
aufhörlichen Generaldiscussionen erörtert zu werden brauchen.

In neuester Zeit dürfte man sich mit der Hoffnung schmeicheln, die
Politik der Zweckessen mit hochbegeisterten Toasten, der Guts- und Bluts-
Adressen ohne thatkräftigen Rückhalt, sei nun ein für allemal durch die Er¬
eignisse beseitigt; schon seit dem kläglichen Ausgang des kopflos unternom¬
menen Classen-Kappelmann'schen Abgeordnetenfestes am Rhein hätte man
es glauben sollen; wie man glauben sollte, daß die kosmopolitisch-demokra¬
tischen Congresse mit dem unfriedlichen Genfer Friedenscongreß zu Grabe
geläutet worden wären. Aber es gibt bekanntlich Nevenants, und auch
überlebte geschichtliche Formationen sterben nur langsam aus.

Allgemeine Prinzipien gehören in die Schul- und Lehrbücher, bilden
aber nur dann einen festen Kitt für bestimmte Parteibildungen, wenn sie in
zeitgemäßen, auf zunächst Erreichbares gerichteten Forderungen formulirt sind.
Die Zeit, in welcher das Rotteck-Welcker'sche Staatslexikon für den Inbe¬
griff aller politischen Weisheit gelten konnte, ist nun einmal vorüber, und
jene hohen Idealisten, welche an der Spitze der Jetztzeit zu marschiren wäh¬
nen, sind in der That nur Epigonen, engherzige, kleinstädtische oder klein-
staatliche, kannegießernde Epigonen jener unfruchtbaren Epoche, wo die Bu¬
reaukratie sämmtliche öffentliche Angelegenheiten der Unterthanen uncontrolirt
besorgte und der Unterthan von vornherein an eine praktische Betheiligung
dabei gar nicht denken durfte. In jener trostlosen Zeit hat sich die weite
Kluft zwischen Theorie und Praxis ausgebildet, welche ein Moment in der
inneren Geschichte des deutschen Geistes bildet, für das bei keiner anderen
Nation etwas ähnliches zu finden ist. Hier liegt eine große, noch immer
nicht beseitigte Gefahr; hier liegt die Quelle der berüchtigten deutschen That"
losigkeit und Träumerei, der individualistischen Rechthaberei und jenes gro߬
thuenden Pessimismus, der meistenteils nur die Maske der schnödesten
Trägheit ist.

Dieses und dem Entsprechendes hatte man sich vor sechs bis sieben
Jahren gesagt, als die Fortschrittspartei ins Leben trat und ein ansehnlicher
Theil der alten Demokratie in ihr aufging. Damals schrieen und jammerten
die unverbesserlichen Radicalen vom reinsten Wasser über Abfall und Ver¬
rath, ungefähr wie jetzt die Fortschrittspartei gegen die Abtrünnigkeit der
Nationalliberalen eifert, seitdem sie wieder in die Phraseologie des alten
Radicalismus zurückgefallen ist. Diese rückläufige Bewegung ist nicht ganz
die Schuld einzelner Individuen: sie hängt enge mit der constitutionellen
Krisis in Preußen zusammen, -- und zwar in so auffälliger Weise, daß in
den anderen deutschen Staaten, wo sich damals deutsche Fortschrittsparteien
nach dem Vorgang der in Preußen gegründeten bildeten (und selbst noch


Platz mehr findet, wo die Grundlagen des Staatslebens nicht mehr in un¬
aufhörlichen Generaldiscussionen erörtert zu werden brauchen.

In neuester Zeit dürfte man sich mit der Hoffnung schmeicheln, die
Politik der Zweckessen mit hochbegeisterten Toasten, der Guts- und Bluts-
Adressen ohne thatkräftigen Rückhalt, sei nun ein für allemal durch die Er¬
eignisse beseitigt; schon seit dem kläglichen Ausgang des kopflos unternom¬
menen Classen-Kappelmann'schen Abgeordnetenfestes am Rhein hätte man
es glauben sollen; wie man glauben sollte, daß die kosmopolitisch-demokra¬
tischen Congresse mit dem unfriedlichen Genfer Friedenscongreß zu Grabe
geläutet worden wären. Aber es gibt bekanntlich Nevenants, und auch
überlebte geschichtliche Formationen sterben nur langsam aus.

Allgemeine Prinzipien gehören in die Schul- und Lehrbücher, bilden
aber nur dann einen festen Kitt für bestimmte Parteibildungen, wenn sie in
zeitgemäßen, auf zunächst Erreichbares gerichteten Forderungen formulirt sind.
Die Zeit, in welcher das Rotteck-Welcker'sche Staatslexikon für den Inbe¬
griff aller politischen Weisheit gelten konnte, ist nun einmal vorüber, und
jene hohen Idealisten, welche an der Spitze der Jetztzeit zu marschiren wäh¬
nen, sind in der That nur Epigonen, engherzige, kleinstädtische oder klein-
staatliche, kannegießernde Epigonen jener unfruchtbaren Epoche, wo die Bu¬
reaukratie sämmtliche öffentliche Angelegenheiten der Unterthanen uncontrolirt
besorgte und der Unterthan von vornherein an eine praktische Betheiligung
dabei gar nicht denken durfte. In jener trostlosen Zeit hat sich die weite
Kluft zwischen Theorie und Praxis ausgebildet, welche ein Moment in der
inneren Geschichte des deutschen Geistes bildet, für das bei keiner anderen
Nation etwas ähnliches zu finden ist. Hier liegt eine große, noch immer
nicht beseitigte Gefahr; hier liegt die Quelle der berüchtigten deutschen That«
losigkeit und Träumerei, der individualistischen Rechthaberei und jenes gro߬
thuenden Pessimismus, der meistenteils nur die Maske der schnödesten
Trägheit ist.

Dieses und dem Entsprechendes hatte man sich vor sechs bis sieben
Jahren gesagt, als die Fortschrittspartei ins Leben trat und ein ansehnlicher
Theil der alten Demokratie in ihr aufging. Damals schrieen und jammerten
die unverbesserlichen Radicalen vom reinsten Wasser über Abfall und Ver¬
rath, ungefähr wie jetzt die Fortschrittspartei gegen die Abtrünnigkeit der
Nationalliberalen eifert, seitdem sie wieder in die Phraseologie des alten
Radicalismus zurückgefallen ist. Diese rückläufige Bewegung ist nicht ganz
die Schuld einzelner Individuen: sie hängt enge mit der constitutionellen
Krisis in Preußen zusammen, — und zwar in so auffälliger Weise, daß in
den anderen deutschen Staaten, wo sich damals deutsche Fortschrittsparteien
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[0173] Platz mehr findet, wo die Grundlagen des Staatslebens nicht mehr in un¬ aufhörlichen Generaldiscussionen erörtert zu werden brauchen. In neuester Zeit dürfte man sich mit der Hoffnung schmeicheln, die Politik der Zweckessen mit hochbegeisterten Toasten, der Guts- und Bluts- Adressen ohne thatkräftigen Rückhalt, sei nun ein für allemal durch die Er¬ eignisse beseitigt; schon seit dem kläglichen Ausgang des kopflos unternom¬ menen Classen-Kappelmann'schen Abgeordnetenfestes am Rhein hätte man es glauben sollen; wie man glauben sollte, daß die kosmopolitisch-demokra¬ tischen Congresse mit dem unfriedlichen Genfer Friedenscongreß zu Grabe geläutet worden wären. Aber es gibt bekanntlich Nevenants, und auch überlebte geschichtliche Formationen sterben nur langsam aus. Allgemeine Prinzipien gehören in die Schul- und Lehrbücher, bilden aber nur dann einen festen Kitt für bestimmte Parteibildungen, wenn sie in zeitgemäßen, auf zunächst Erreichbares gerichteten Forderungen formulirt sind. Die Zeit, in welcher das Rotteck-Welcker'sche Staatslexikon für den Inbe¬ griff aller politischen Weisheit gelten konnte, ist nun einmal vorüber, und jene hohen Idealisten, welche an der Spitze der Jetztzeit zu marschiren wäh¬ nen, sind in der That nur Epigonen, engherzige, kleinstädtische oder klein- staatliche, kannegießernde Epigonen jener unfruchtbaren Epoche, wo die Bu¬ reaukratie sämmtliche öffentliche Angelegenheiten der Unterthanen uncontrolirt besorgte und der Unterthan von vornherein an eine praktische Betheiligung dabei gar nicht denken durfte. In jener trostlosen Zeit hat sich die weite Kluft zwischen Theorie und Praxis ausgebildet, welche ein Moment in der inneren Geschichte des deutschen Geistes bildet, für das bei keiner anderen Nation etwas ähnliches zu finden ist. Hier liegt eine große, noch immer nicht beseitigte Gefahr; hier liegt die Quelle der berüchtigten deutschen That« losigkeit und Träumerei, der individualistischen Rechthaberei und jenes gro߬ thuenden Pessimismus, der meistenteils nur die Maske der schnödesten Trägheit ist. Dieses und dem Entsprechendes hatte man sich vor sechs bis sieben Jahren gesagt, als die Fortschrittspartei ins Leben trat und ein ansehnlicher Theil der alten Demokratie in ihr aufging. Damals schrieen und jammerten die unverbesserlichen Radicalen vom reinsten Wasser über Abfall und Ver¬ rath, ungefähr wie jetzt die Fortschrittspartei gegen die Abtrünnigkeit der Nationalliberalen eifert, seitdem sie wieder in die Phraseologie des alten Radicalismus zurückgefallen ist. Diese rückläufige Bewegung ist nicht ganz die Schuld einzelner Individuen: sie hängt enge mit der constitutionellen Krisis in Preußen zusammen, — und zwar in so auffälliger Weise, daß in den anderen deutschen Staaten, wo sich damals deutsche Fortschrittsparteien nach dem Vorgang der in Preußen gegründeten bildeten (und selbst noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/173>, abgerufen am 23.07.2024.