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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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gelehrsamkeit. Aber der moralische Gehalt sollte auch beim Abgang des
intellectuellen, in der Fortschrittspartei intact bleiben. -- Ich entgeg-
nete ihm, daß er sich in Abstractionen bewege und daß gerade diese Unter¬
scheidung von intellectuellen und moralischem Gehalt auf eine der verderb¬
lichsten Abstractionen zurückzuführen sei. Wie der Mensch mit seinen höheren
Zwecken wächst, so schrumpft er zusammen, wenn er das Bewußtsein der
Zwecklosigkeit in sich herumträgt. Ein Politiker, der den Werth seiner Leistun¬
gen nicht an erreichbaren Zielen zu messen gedenkt, wird leicht zum hohlen
Schönredner; je weniger Positives er zu leisten vermag, desto eher geräth er,
zur Bemäntelung dieser Dürftigkeit, in ein forcirtes Pathos, zu dessen Gun¬
sten die gemeinplätzliche Gegenüberstellung von Talent und Charakter ver¬
wendet zu werden pflegt. Als ob die Zuverlässigkeit nur bei der Talent-
losigkeit wohnte! Sollten gewisse Parteiprogramme in der That nur von
denen treu eingehalten werden, welche nicht im Stande sind, sich darüber
Rechenschaft zu geben? -- Umgekehrt wäre es richtiger, zu sagen, daß die
Abstimmungen derjenigen Abgeordneten sehr unzuverlässig sind, welche nichts
können als abstimmen, die also nothwendig von irgend einer älteren Nota¬
bilität abhängig werden. Ich gebe zu, daß man nicht lauter selbständige
Denker in die Landesvertretungen schicken kann; so reich ist das Land noch
nicht an dieser Waare! Ich will nur sagen, daß die Parteien, welche mehr
an das Selbstdenken appelliren, auch mehr moralische Würde aufzuweisen
haben. Eine Partei aber, welche in einem Schablonenhaften Programm ver¬
knöchert ist und jede neue Frage gleichsam in eine dogmatische Rechenmaschine
setzt, aus welcher nur etwa diese oder jene bestimmte Antwort heraussprin¬
gen kann, hat schon deshalb keine neuen Capacitäten, weil sie dieselben nicht
gebrauchen kann, nicht gebrauchen will. Da stellt denn das Dogma von
der biedermännischen Gesinnungstüchtigkeit zur rechten Zeit sich ein. Man
könnte bekannte Führer nennen, welche sogar in den Reihen ihrer eigenen
Anhänger dem unbedeutenderen, und namentlich dem schweigsamen Kandi¬
daten den Vorzug gaben vor anderen "minder sicheren", weil begabteren und
beredteren Individuen.

Allerdings ist die Beredtsamkeit, welche so oft perhorrescirt und noch
öfter mißbraucht wird, nicht immer von wirklich parlamentarischer Brauch¬
barkeit; häufig ist es nur eine gewisse Routine, in den Volks- und Bezirks¬
versammlungen erlernt und von da übertragen, oft mehr auf den Anhänger
da draußen berechnet und an sie gerichtet, als zur Belehrung im Saale der
Volksvertreter geeignet. Eine gewisse Art von "glänzender", nicht sachlicher
Beredtsamkeit trägt den Stempel politischer Unreife: sicherlich hat z. B. Jeder¬
mann Jules Favres letzte Rede über die römische Frage mit Bewunderung
gelesen, aber wir preisen die Länder glücklich, wo solche Rhetorik keinen


gelehrsamkeit. Aber der moralische Gehalt sollte auch beim Abgang des
intellectuellen, in der Fortschrittspartei intact bleiben. — Ich entgeg-
nete ihm, daß er sich in Abstractionen bewege und daß gerade diese Unter¬
scheidung von intellectuellen und moralischem Gehalt auf eine der verderb¬
lichsten Abstractionen zurückzuführen sei. Wie der Mensch mit seinen höheren
Zwecken wächst, so schrumpft er zusammen, wenn er das Bewußtsein der
Zwecklosigkeit in sich herumträgt. Ein Politiker, der den Werth seiner Leistun¬
gen nicht an erreichbaren Zielen zu messen gedenkt, wird leicht zum hohlen
Schönredner; je weniger Positives er zu leisten vermag, desto eher geräth er,
zur Bemäntelung dieser Dürftigkeit, in ein forcirtes Pathos, zu dessen Gun¬
sten die gemeinplätzliche Gegenüberstellung von Talent und Charakter ver¬
wendet zu werden pflegt. Als ob die Zuverlässigkeit nur bei der Talent-
losigkeit wohnte! Sollten gewisse Parteiprogramme in der That nur von
denen treu eingehalten werden, welche nicht im Stande sind, sich darüber
Rechenschaft zu geben? — Umgekehrt wäre es richtiger, zu sagen, daß die
Abstimmungen derjenigen Abgeordneten sehr unzuverlässig sind, welche nichts
können als abstimmen, die also nothwendig von irgend einer älteren Nota¬
bilität abhängig werden. Ich gebe zu, daß man nicht lauter selbständige
Denker in die Landesvertretungen schicken kann; so reich ist das Land noch
nicht an dieser Waare! Ich will nur sagen, daß die Parteien, welche mehr
an das Selbstdenken appelliren, auch mehr moralische Würde aufzuweisen
haben. Eine Partei aber, welche in einem Schablonenhaften Programm ver¬
knöchert ist und jede neue Frage gleichsam in eine dogmatische Rechenmaschine
setzt, aus welcher nur etwa diese oder jene bestimmte Antwort heraussprin¬
gen kann, hat schon deshalb keine neuen Capacitäten, weil sie dieselben nicht
gebrauchen kann, nicht gebrauchen will. Da stellt denn das Dogma von
der biedermännischen Gesinnungstüchtigkeit zur rechten Zeit sich ein. Man
könnte bekannte Führer nennen, welche sogar in den Reihen ihrer eigenen
Anhänger dem unbedeutenderen, und namentlich dem schweigsamen Kandi¬
daten den Vorzug gaben vor anderen „minder sicheren", weil begabteren und
beredteren Individuen.

Allerdings ist die Beredtsamkeit, welche so oft perhorrescirt und noch
öfter mißbraucht wird, nicht immer von wirklich parlamentarischer Brauch¬
barkeit; häufig ist es nur eine gewisse Routine, in den Volks- und Bezirks¬
versammlungen erlernt und von da übertragen, oft mehr auf den Anhänger
da draußen berechnet und an sie gerichtet, als zur Belehrung im Saale der
Volksvertreter geeignet. Eine gewisse Art von „glänzender", nicht sachlicher
Beredtsamkeit trägt den Stempel politischer Unreife: sicherlich hat z. B. Jeder¬
mann Jules Favres letzte Rede über die römische Frage mit Bewunderung
gelesen, aber wir preisen die Länder glücklich, wo solche Rhetorik keinen


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[0172] gelehrsamkeit. Aber der moralische Gehalt sollte auch beim Abgang des intellectuellen, in der Fortschrittspartei intact bleiben. — Ich entgeg- nete ihm, daß er sich in Abstractionen bewege und daß gerade diese Unter¬ scheidung von intellectuellen und moralischem Gehalt auf eine der verderb¬ lichsten Abstractionen zurückzuführen sei. Wie der Mensch mit seinen höheren Zwecken wächst, so schrumpft er zusammen, wenn er das Bewußtsein der Zwecklosigkeit in sich herumträgt. Ein Politiker, der den Werth seiner Leistun¬ gen nicht an erreichbaren Zielen zu messen gedenkt, wird leicht zum hohlen Schönredner; je weniger Positives er zu leisten vermag, desto eher geräth er, zur Bemäntelung dieser Dürftigkeit, in ein forcirtes Pathos, zu dessen Gun¬ sten die gemeinplätzliche Gegenüberstellung von Talent und Charakter ver¬ wendet zu werden pflegt. Als ob die Zuverlässigkeit nur bei der Talent- losigkeit wohnte! Sollten gewisse Parteiprogramme in der That nur von denen treu eingehalten werden, welche nicht im Stande sind, sich darüber Rechenschaft zu geben? — Umgekehrt wäre es richtiger, zu sagen, daß die Abstimmungen derjenigen Abgeordneten sehr unzuverlässig sind, welche nichts können als abstimmen, die also nothwendig von irgend einer älteren Nota¬ bilität abhängig werden. Ich gebe zu, daß man nicht lauter selbständige Denker in die Landesvertretungen schicken kann; so reich ist das Land noch nicht an dieser Waare! Ich will nur sagen, daß die Parteien, welche mehr an das Selbstdenken appelliren, auch mehr moralische Würde aufzuweisen haben. Eine Partei aber, welche in einem Schablonenhaften Programm ver¬ knöchert ist und jede neue Frage gleichsam in eine dogmatische Rechenmaschine setzt, aus welcher nur etwa diese oder jene bestimmte Antwort heraussprin¬ gen kann, hat schon deshalb keine neuen Capacitäten, weil sie dieselben nicht gebrauchen kann, nicht gebrauchen will. Da stellt denn das Dogma von der biedermännischen Gesinnungstüchtigkeit zur rechten Zeit sich ein. Man könnte bekannte Führer nennen, welche sogar in den Reihen ihrer eigenen Anhänger dem unbedeutenderen, und namentlich dem schweigsamen Kandi¬ daten den Vorzug gaben vor anderen „minder sicheren", weil begabteren und beredteren Individuen. Allerdings ist die Beredtsamkeit, welche so oft perhorrescirt und noch öfter mißbraucht wird, nicht immer von wirklich parlamentarischer Brauch¬ barkeit; häufig ist es nur eine gewisse Routine, in den Volks- und Bezirks¬ versammlungen erlernt und von da übertragen, oft mehr auf den Anhänger da draußen berechnet und an sie gerichtet, als zur Belehrung im Saale der Volksvertreter geeignet. Eine gewisse Art von „glänzender", nicht sachlicher Beredtsamkeit trägt den Stempel politischer Unreife: sicherlich hat z. B. Jeder¬ mann Jules Favres letzte Rede über die römische Frage mit Bewunderung gelesen, aber wir preisen die Länder glücklich, wo solche Rhetorik keinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/172>, abgerufen am 23.07.2024.