Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

jenen Zeloten, welche auf Dogmen schwören, obgleich sie die Geistesfreiheit
stets im Munde führen, welche abstract denken aus Unwissenheit, niemals
beirrt durch wachsende Erkenntniß, niemals den eigentlichen Lebensfragen
näher tretend. Je beschränkter, desto intoleranter. Diese sogenannten "stäh¬
lernen Charaktere", welche in den Volksversammlungen die imposantesten
Resolutionen durchsetzen, gefährden gerade am meisten die freiheitliche Ent¬
wicklung der Parteien durch ihr zähes Festhalten an unbrauchbar gewor-
genen Phrasen, durch ihre bornirte Buchstabenconsequenz.

Glücklich ein Land, wie England, das elastische Parteiformen historisch
überkommen hat, welche weit genug sind, dem Individuum die freie Bewe¬
gung zu gönnen und fest genug, einer Niederlage zu widerstehen, in welchen
alles, was regierungsfähig ist, sich sammeln kann, welche die neuen Elemente
friedlich in sich verarbeiten, wie z, B. die Whigs allmählich die aus den
Tones hervorgegangenen Peeliten in sich aufgenommen haben. Bei uns
dagegen scheint es, als ob immer wieder ganz von vorn angefangen werden
müßte. Die meisten Parteien in Deutschland vertreten abstracte Prinzipien
ohne unmittelbare Anknüpfung an schon bestehende Gestaltungen oder an
lebhaft im Volk empfundene Bedürfnisse. Daher die häufig wiederkehrende
und doch nicht ganz gerechtfertigte Klage über die Schlaffheit und politische
Gleichgiltigkeit des Volkes. Wenn nun einmal eine Partei sich praktische
Ziele setzt, wird sie von rechts und links verdächtigt. Die Klassen selbst,
deren Interessen sie vertritt, erkennen sich nicht wieder in dem Spiegelbild
der politischen Parteiung; in der allgemeinen Sprachverwirrung einer hohlen
und überlebten politischen Phraseologie versäumen sie es oft, ihre eigentlichen
Vorkämpfer zu unterstützen.

Die Mehrzahl der Individuen in Deutschland betrachtet ihre persönliche
Betheiligung an der Politik immer noch als ein bloßes theoretisches Spiel,
bei welchem es mehr darauf ankomme, eine Ansicht zur Geltung zu bringen,
als ein Interesse zu fördern. Bei allen gewohnheitsmäßigen Beschwerden
über büreaukratische Bevormundung liegt im Hintergrunde doch noch ein
gewaltiges Vertrauen in die höhere Weisheit, die bessere Einsicht und Sach¬
kenntniß der Behörden, ein Vertrauen, welches zur Folge hat, daß der Ein¬
zelne zwar über jeden Schnitzer und jede Unwissenheit der Beamten immer
wieder von neuem tief entrüstet und hoch verwundert thut, aber selten die
Entschlossenheit besitzt, durch eigenes Studium und emsige Selbsthilfe den
Irrungen der Bureaukratie vorzubeugen, -- eben weil in seinen stillen Vor¬
aussetzungen die Allwissenheit der Bureaukratie die Regel und die Irrung
nur ein Ausnahmsfall ist. Mit einem Worte: unsere besten Bürger thun
noch immer nur den geringsten Theil dessen, was in ihren Kräften stünde,
um sich der bureaukratischen Bevormundung zu entreißen und ein wirkliches


jenen Zeloten, welche auf Dogmen schwören, obgleich sie die Geistesfreiheit
stets im Munde führen, welche abstract denken aus Unwissenheit, niemals
beirrt durch wachsende Erkenntniß, niemals den eigentlichen Lebensfragen
näher tretend. Je beschränkter, desto intoleranter. Diese sogenannten „stäh¬
lernen Charaktere", welche in den Volksversammlungen die imposantesten
Resolutionen durchsetzen, gefährden gerade am meisten die freiheitliche Ent¬
wicklung der Parteien durch ihr zähes Festhalten an unbrauchbar gewor-
genen Phrasen, durch ihre bornirte Buchstabenconsequenz.

Glücklich ein Land, wie England, das elastische Parteiformen historisch
überkommen hat, welche weit genug sind, dem Individuum die freie Bewe¬
gung zu gönnen und fest genug, einer Niederlage zu widerstehen, in welchen
alles, was regierungsfähig ist, sich sammeln kann, welche die neuen Elemente
friedlich in sich verarbeiten, wie z, B. die Whigs allmählich die aus den
Tones hervorgegangenen Peeliten in sich aufgenommen haben. Bei uns
dagegen scheint es, als ob immer wieder ganz von vorn angefangen werden
müßte. Die meisten Parteien in Deutschland vertreten abstracte Prinzipien
ohne unmittelbare Anknüpfung an schon bestehende Gestaltungen oder an
lebhaft im Volk empfundene Bedürfnisse. Daher die häufig wiederkehrende
und doch nicht ganz gerechtfertigte Klage über die Schlaffheit und politische
Gleichgiltigkeit des Volkes. Wenn nun einmal eine Partei sich praktische
Ziele setzt, wird sie von rechts und links verdächtigt. Die Klassen selbst,
deren Interessen sie vertritt, erkennen sich nicht wieder in dem Spiegelbild
der politischen Parteiung; in der allgemeinen Sprachverwirrung einer hohlen
und überlebten politischen Phraseologie versäumen sie es oft, ihre eigentlichen
Vorkämpfer zu unterstützen.

Die Mehrzahl der Individuen in Deutschland betrachtet ihre persönliche
Betheiligung an der Politik immer noch als ein bloßes theoretisches Spiel,
bei welchem es mehr darauf ankomme, eine Ansicht zur Geltung zu bringen,
als ein Interesse zu fördern. Bei allen gewohnheitsmäßigen Beschwerden
über büreaukratische Bevormundung liegt im Hintergrunde doch noch ein
gewaltiges Vertrauen in die höhere Weisheit, die bessere Einsicht und Sach¬
kenntniß der Behörden, ein Vertrauen, welches zur Folge hat, daß der Ein¬
zelne zwar über jeden Schnitzer und jede Unwissenheit der Beamten immer
wieder von neuem tief entrüstet und hoch verwundert thut, aber selten die
Entschlossenheit besitzt, durch eigenes Studium und emsige Selbsthilfe den
Irrungen der Bureaukratie vorzubeugen, — eben weil in seinen stillen Vor¬
aussetzungen die Allwissenheit der Bureaukratie die Regel und die Irrung
nur ein Ausnahmsfall ist. Mit einem Worte: unsere besten Bürger thun
noch immer nur den geringsten Theil dessen, was in ihren Kräften stünde,
um sich der bureaukratischen Bevormundung zu entreißen und ein wirkliches


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0170" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117176"/>
          <p xml:id="ID_455" prev="#ID_454"> jenen Zeloten, welche auf Dogmen schwören, obgleich sie die Geistesfreiheit<lb/>
stets im Munde führen, welche abstract denken aus Unwissenheit, niemals<lb/>
beirrt durch wachsende Erkenntniß, niemals den eigentlichen Lebensfragen<lb/>
näher tretend. Je beschränkter, desto intoleranter. Diese sogenannten &#x201E;stäh¬<lb/>
lernen Charaktere", welche in den Volksversammlungen die imposantesten<lb/>
Resolutionen durchsetzen, gefährden gerade am meisten die freiheitliche Ent¬<lb/>
wicklung der Parteien durch ihr zähes Festhalten an unbrauchbar gewor-<lb/>
genen Phrasen, durch ihre bornirte Buchstabenconsequenz.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_456"> Glücklich ein Land, wie England, das elastische Parteiformen historisch<lb/>
überkommen hat, welche weit genug sind, dem Individuum die freie Bewe¬<lb/>
gung zu gönnen und fest genug, einer Niederlage zu widerstehen, in welchen<lb/>
alles, was regierungsfähig ist, sich sammeln kann, welche die neuen Elemente<lb/>
friedlich in sich verarbeiten, wie z, B. die Whigs allmählich die aus den<lb/>
Tones hervorgegangenen Peeliten in sich aufgenommen haben. Bei uns<lb/>
dagegen scheint es, als ob immer wieder ganz von vorn angefangen werden<lb/>
müßte. Die meisten Parteien in Deutschland vertreten abstracte Prinzipien<lb/>
ohne unmittelbare Anknüpfung an schon bestehende Gestaltungen oder an<lb/>
lebhaft im Volk empfundene Bedürfnisse. Daher die häufig wiederkehrende<lb/>
und doch nicht ganz gerechtfertigte Klage über die Schlaffheit und politische<lb/>
Gleichgiltigkeit des Volkes. Wenn nun einmal eine Partei sich praktische<lb/>
Ziele setzt, wird sie von rechts und links verdächtigt. Die Klassen selbst,<lb/>
deren Interessen sie vertritt, erkennen sich nicht wieder in dem Spiegelbild<lb/>
der politischen Parteiung; in der allgemeinen Sprachverwirrung einer hohlen<lb/>
und überlebten politischen Phraseologie versäumen sie es oft, ihre eigentlichen<lb/>
Vorkämpfer zu unterstützen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_457" next="#ID_458"> Die Mehrzahl der Individuen in Deutschland betrachtet ihre persönliche<lb/>
Betheiligung an der Politik immer noch als ein bloßes theoretisches Spiel,<lb/>
bei welchem es mehr darauf ankomme, eine Ansicht zur Geltung zu bringen,<lb/>
als ein Interesse zu fördern. Bei allen gewohnheitsmäßigen Beschwerden<lb/>
über büreaukratische Bevormundung liegt im Hintergrunde doch noch ein<lb/>
gewaltiges Vertrauen in die höhere Weisheit, die bessere Einsicht und Sach¬<lb/>
kenntniß der Behörden, ein Vertrauen, welches zur Folge hat, daß der Ein¬<lb/>
zelne zwar über jeden Schnitzer und jede Unwissenheit der Beamten immer<lb/>
wieder von neuem tief entrüstet und hoch verwundert thut, aber selten die<lb/>
Entschlossenheit besitzt, durch eigenes Studium und emsige Selbsthilfe den<lb/>
Irrungen der Bureaukratie vorzubeugen, &#x2014; eben weil in seinen stillen Vor¬<lb/>
aussetzungen die Allwissenheit der Bureaukratie die Regel und die Irrung<lb/>
nur ein Ausnahmsfall ist. Mit einem Worte: unsere besten Bürger thun<lb/>
noch immer nur den geringsten Theil dessen, was in ihren Kräften stünde,<lb/>
um sich der bureaukratischen Bevormundung zu entreißen und ein wirkliches</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0170] jenen Zeloten, welche auf Dogmen schwören, obgleich sie die Geistesfreiheit stets im Munde führen, welche abstract denken aus Unwissenheit, niemals beirrt durch wachsende Erkenntniß, niemals den eigentlichen Lebensfragen näher tretend. Je beschränkter, desto intoleranter. Diese sogenannten „stäh¬ lernen Charaktere", welche in den Volksversammlungen die imposantesten Resolutionen durchsetzen, gefährden gerade am meisten die freiheitliche Ent¬ wicklung der Parteien durch ihr zähes Festhalten an unbrauchbar gewor- genen Phrasen, durch ihre bornirte Buchstabenconsequenz. Glücklich ein Land, wie England, das elastische Parteiformen historisch überkommen hat, welche weit genug sind, dem Individuum die freie Bewe¬ gung zu gönnen und fest genug, einer Niederlage zu widerstehen, in welchen alles, was regierungsfähig ist, sich sammeln kann, welche die neuen Elemente friedlich in sich verarbeiten, wie z, B. die Whigs allmählich die aus den Tones hervorgegangenen Peeliten in sich aufgenommen haben. Bei uns dagegen scheint es, als ob immer wieder ganz von vorn angefangen werden müßte. Die meisten Parteien in Deutschland vertreten abstracte Prinzipien ohne unmittelbare Anknüpfung an schon bestehende Gestaltungen oder an lebhaft im Volk empfundene Bedürfnisse. Daher die häufig wiederkehrende und doch nicht ganz gerechtfertigte Klage über die Schlaffheit und politische Gleichgiltigkeit des Volkes. Wenn nun einmal eine Partei sich praktische Ziele setzt, wird sie von rechts und links verdächtigt. Die Klassen selbst, deren Interessen sie vertritt, erkennen sich nicht wieder in dem Spiegelbild der politischen Parteiung; in der allgemeinen Sprachverwirrung einer hohlen und überlebten politischen Phraseologie versäumen sie es oft, ihre eigentlichen Vorkämpfer zu unterstützen. Die Mehrzahl der Individuen in Deutschland betrachtet ihre persönliche Betheiligung an der Politik immer noch als ein bloßes theoretisches Spiel, bei welchem es mehr darauf ankomme, eine Ansicht zur Geltung zu bringen, als ein Interesse zu fördern. Bei allen gewohnheitsmäßigen Beschwerden über büreaukratische Bevormundung liegt im Hintergrunde doch noch ein gewaltiges Vertrauen in die höhere Weisheit, die bessere Einsicht und Sach¬ kenntniß der Behörden, ein Vertrauen, welches zur Folge hat, daß der Ein¬ zelne zwar über jeden Schnitzer und jede Unwissenheit der Beamten immer wieder von neuem tief entrüstet und hoch verwundert thut, aber selten die Entschlossenheit besitzt, durch eigenes Studium und emsige Selbsthilfe den Irrungen der Bureaukratie vorzubeugen, — eben weil in seinen stillen Vor¬ aussetzungen die Allwissenheit der Bureaukratie die Regel und die Irrung nur ein Ausnahmsfall ist. Mit einem Worte: unsere besten Bürger thun noch immer nur den geringsten Theil dessen, was in ihren Kräften stünde, um sich der bureaukratischen Bevormundung zu entreißen und ein wirkliches

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/170
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/170>, abgerufen am 26.08.2024.