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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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von Hand zu Hand unter den Getreuen Hessens herumgehenden Reime¬
reien auf das Unglück des angestammten Fürsten bemerkt er zu einem Lied
auf den Herzog Ulrich von Würtemberg: Gedruckt ist das Lied wohl niemals
worden; es mochte in jener Zeit vielleicht nicht einmal möglich sein, es zu
veröffentlichen und wird nur unter den einverstandener Treuen handschriftlich
umgegangen, auswendig gelernt und unter Vertrauten gesungen worden
sein, wie dergleichen Lieder auch in späteren Zeiten und bis auf diesen Tag
nur unter den ihren verjagten Fürsten treu gebliebenen Unterthanen zu ihrem
Troste und ihrer Erhebung handschriftlich verbreitet worden sind und noch
verbreitet werden."

Waren es also für Herrn Vilmar wesentlich nur politische Gründe, die
ihn bewogen, jetzt mit seinem Handbüchlein hervorzutreten und seinem Schmerze
"über den ungeheuern Abfall vom Worte Gottes" Ausdruck zu geben, so
wird er es uns auch nicht verübeln dürfen, wenn wir daran eine Besprechung
seines politischen Verhaltens im Licht seiner Vergangenheit anknüpfen, ohne
über das Jahr hinauszugehen, welches für alle politischen Männer unseres
Volkes ein entscheidendes war, das Jahr 1848/) Wir werden dieses um so
eher dürfen, als das Handbüchlein, abgesehen von seiner ansprechenden Dar¬
stellung, die ihm gewiß einen großen Lesekreis bei den Geistesverwandten
seines Verfassers sichert, wenig neues darbietet.

Es ist ein stehendes Thema der reactionären Presse in Preußen, auf den
Zwiespalt hinzuweisen, der in dem Lager der Liberalen herrsche und zum
Untergange des ganzen Liberalismus führen müsse. Und doch hätte sie vor
allem Noth, sich des Wortes vom Splitter in des Bruders Auge und dem
Balken in dem eigenen zu entsinnen. Denn wenn auch in der großen
liberalen Partei über die wichtigsten Fragen tiefgehende Meinungsdiffe¬
renzen herrschen mögen, so ist doch der Zwiespalt, der im entgegengesetzten
Lager ausgebrochen ist, noch viel größer und der Haß, der hier entbrannt
ist, der Natur der Partei nach noch viel ingrimmiger. Was es für eine
Bewandtnis) mit dem christlichen Conservativismus habe, liegt jetzt dem blö¬
desten Auge klar. Denn hat nicht die christlich-conservative Partei immer
von sich gerühmt, sie sei die einzig solide und fest geschlossene? Und wie
sieht es jetzt mit dieser Geschlossenheit aus, nachdem die erste größere poli¬
tische Wandlung in Deutschland vorgegangen ist? notorisch ist, daß die
conservative preußische Negierung sich in den neuen Landestheilen auf die
ausgesprochen liberalen Elemente der Bevölkerung stützen muß, daß der eine
Bruchtheil der christlich-conservative" Partei den andern des Abfalls vom



") Man vergl. (Meiner) Dr. A. Vilmars und seiner Anhänger Stellung zu den wichtig¬
sten politischen und kirchlichen Zcttfragen, Frankfurt 1865.

von Hand zu Hand unter den Getreuen Hessens herumgehenden Reime¬
reien auf das Unglück des angestammten Fürsten bemerkt er zu einem Lied
auf den Herzog Ulrich von Würtemberg: Gedruckt ist das Lied wohl niemals
worden; es mochte in jener Zeit vielleicht nicht einmal möglich sein, es zu
veröffentlichen und wird nur unter den einverstandener Treuen handschriftlich
umgegangen, auswendig gelernt und unter Vertrauten gesungen worden
sein, wie dergleichen Lieder auch in späteren Zeiten und bis auf diesen Tag
nur unter den ihren verjagten Fürsten treu gebliebenen Unterthanen zu ihrem
Troste und ihrer Erhebung handschriftlich verbreitet worden sind und noch
verbreitet werden."

Waren es also für Herrn Vilmar wesentlich nur politische Gründe, die
ihn bewogen, jetzt mit seinem Handbüchlein hervorzutreten und seinem Schmerze
„über den ungeheuern Abfall vom Worte Gottes" Ausdruck zu geben, so
wird er es uns auch nicht verübeln dürfen, wenn wir daran eine Besprechung
seines politischen Verhaltens im Licht seiner Vergangenheit anknüpfen, ohne
über das Jahr hinauszugehen, welches für alle politischen Männer unseres
Volkes ein entscheidendes war, das Jahr 1848/) Wir werden dieses um so
eher dürfen, als das Handbüchlein, abgesehen von seiner ansprechenden Dar¬
stellung, die ihm gewiß einen großen Lesekreis bei den Geistesverwandten
seines Verfassers sichert, wenig neues darbietet.

Es ist ein stehendes Thema der reactionären Presse in Preußen, auf den
Zwiespalt hinzuweisen, der in dem Lager der Liberalen herrsche und zum
Untergange des ganzen Liberalismus führen müsse. Und doch hätte sie vor
allem Noth, sich des Wortes vom Splitter in des Bruders Auge und dem
Balken in dem eigenen zu entsinnen. Denn wenn auch in der großen
liberalen Partei über die wichtigsten Fragen tiefgehende Meinungsdiffe¬
renzen herrschen mögen, so ist doch der Zwiespalt, der im entgegengesetzten
Lager ausgebrochen ist, noch viel größer und der Haß, der hier entbrannt
ist, der Natur der Partei nach noch viel ingrimmiger. Was es für eine
Bewandtnis) mit dem christlichen Conservativismus habe, liegt jetzt dem blö¬
desten Auge klar. Denn hat nicht die christlich-conservative Partei immer
von sich gerühmt, sie sei die einzig solide und fest geschlossene? Und wie
sieht es jetzt mit dieser Geschlossenheit aus, nachdem die erste größere poli¬
tische Wandlung in Deutschland vorgegangen ist? notorisch ist, daß die
conservative preußische Negierung sich in den neuen Landestheilen auf die
ausgesprochen liberalen Elemente der Bevölkerung stützen muß, daß der eine
Bruchtheil der christlich-conservative« Partei den andern des Abfalls vom



") Man vergl. (Meiner) Dr. A. Vilmars und seiner Anhänger Stellung zu den wichtig¬
sten politischen und kirchlichen Zcttfragen, Frankfurt 1865.
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[0157] von Hand zu Hand unter den Getreuen Hessens herumgehenden Reime¬ reien auf das Unglück des angestammten Fürsten bemerkt er zu einem Lied auf den Herzog Ulrich von Würtemberg: Gedruckt ist das Lied wohl niemals worden; es mochte in jener Zeit vielleicht nicht einmal möglich sein, es zu veröffentlichen und wird nur unter den einverstandener Treuen handschriftlich umgegangen, auswendig gelernt und unter Vertrauten gesungen worden sein, wie dergleichen Lieder auch in späteren Zeiten und bis auf diesen Tag nur unter den ihren verjagten Fürsten treu gebliebenen Unterthanen zu ihrem Troste und ihrer Erhebung handschriftlich verbreitet worden sind und noch verbreitet werden." Waren es also für Herrn Vilmar wesentlich nur politische Gründe, die ihn bewogen, jetzt mit seinem Handbüchlein hervorzutreten und seinem Schmerze „über den ungeheuern Abfall vom Worte Gottes" Ausdruck zu geben, so wird er es uns auch nicht verübeln dürfen, wenn wir daran eine Besprechung seines politischen Verhaltens im Licht seiner Vergangenheit anknüpfen, ohne über das Jahr hinauszugehen, welches für alle politischen Männer unseres Volkes ein entscheidendes war, das Jahr 1848/) Wir werden dieses um so eher dürfen, als das Handbüchlein, abgesehen von seiner ansprechenden Dar¬ stellung, die ihm gewiß einen großen Lesekreis bei den Geistesverwandten seines Verfassers sichert, wenig neues darbietet. Es ist ein stehendes Thema der reactionären Presse in Preußen, auf den Zwiespalt hinzuweisen, der in dem Lager der Liberalen herrsche und zum Untergange des ganzen Liberalismus führen müsse. Und doch hätte sie vor allem Noth, sich des Wortes vom Splitter in des Bruders Auge und dem Balken in dem eigenen zu entsinnen. Denn wenn auch in der großen liberalen Partei über die wichtigsten Fragen tiefgehende Meinungsdiffe¬ renzen herrschen mögen, so ist doch der Zwiespalt, der im entgegengesetzten Lager ausgebrochen ist, noch viel größer und der Haß, der hier entbrannt ist, der Natur der Partei nach noch viel ingrimmiger. Was es für eine Bewandtnis) mit dem christlichen Conservativismus habe, liegt jetzt dem blö¬ desten Auge klar. Denn hat nicht die christlich-conservative Partei immer von sich gerühmt, sie sei die einzig solide und fest geschlossene? Und wie sieht es jetzt mit dieser Geschlossenheit aus, nachdem die erste größere poli¬ tische Wandlung in Deutschland vorgegangen ist? notorisch ist, daß die conservative preußische Negierung sich in den neuen Landestheilen auf die ausgesprochen liberalen Elemente der Bevölkerung stützen muß, daß der eine Bruchtheil der christlich-conservative« Partei den andern des Abfalls vom ") Man vergl. (Meiner) Dr. A. Vilmars und seiner Anhänger Stellung zu den wichtig¬ sten politischen und kirchlichen Zcttfragen, Frankfurt 1865.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/157>, abgerufen am 05.02.2025.