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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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so trat das merkwürdige Werk ans Licht, welches klar zeigt, was es mit den
russischen Betheuerungen für Humanität und Christenthum auf sich hat.
Aber schon vorher hatte Prokesch Gelegenheit, auf dem diplomatischen Felde
dem russischen Cabinete erfolgreich entgegenzuwirken. Ende Februar hatte
Marquis de Moustier eine Denkschrift über die in der Türkei ausgeführten
Reformen verfaßt, in welcher er davon ausging, daß der Hatti-Hamayoum
von 1856 die für das Wohl der Bevölkerungen nothwendigen Grundlagen
festgestellt habe und daß es sich nur darum handle, die Pforte zur Ausfüh¬
rung derselben anzuhalten. Dies ist eine unzweifelhaft richtige Auffassung,
die z. B. auch von dem größten englischen Kenner der türkischen Zustande,
Lord Stratford de Ratcliffe, getheilt wird, aber die Verwirklichung eines
solchen Planes paßte dem Fürsten Gortschakow nicht, denn sie hätte dazu
geführt, die Verwaltung der Pforte, welche in entfernten Gebieten bisher
ohnmächtig war, zu stärken. Er beeilte sich also, sobald Baron Talleyrand
ihm das Memoire seines Chefs mitgetheilt, an die Großmächte eine lange
Depesche zu richten, um zu zeigen, daß alle vom Sultan bisher proklamirten
und versprochenen Reformen ein todter Buchstabe geblieben. Rußland sei
noch immer geneigt, dem Sultan die Initiative in der Ausübung seiner
souveränen Rechte zu lassen, aber die christlichen Bevölkerungen hätten nicht
vergessen, daß auch der Hatti-Hamayoum freiwillig vom Sultan gegeben sei,
ihnen aber keinerlei Erleichterung gebracht, obwohl der pariser Friedensvertrag
auf ihn verwiesen habe; aber wenn man zu einer friedlichen Lösung der
gegenwärtigen Verwicklung kommen wolle, so sei die Hauptsache, den christ¬
lichen Bevölkerungen Zutrauen einzuflößen, was nicht durch einen bloßen
Appell an ein discreditirtes Dokument geschehen könne, sondern nur, wenn
neue Bestimmungen über ihre künftige Lage von der Pforte unter Mitwir¬
kung der christlichen Mächte, wodurch die Ehre derselben engagirt werde,
ausgearbeitet würden. -- Dieser Mittheilung des Kanzlers folgte am 6. April
eine ausführliche Denkschrift, welche ein vollkommenes Nesormprojekt ent¬
wickelt, von dem Gesichtspunkte ausgehend, daß nicht eine größere Centra¬
lisation, sondern im Gegentheil die vollkommenste Decentralisation der Ver¬
waltung in der Türkei durchgeführt werden müsse, um das Loos der Chri¬
sten gründlich zu verbessern. Das Memoire beginnt mit den herkömmlichen
Versicherungen des ZeLmt^iessemLnt absolu der kaiserlichen Politik, deren
Augenmerk nur der aufrichtige Wunsch sei, das Wohlergehen der griechischen
Neligionsgenossen mit der Erhaltung der Autorität des Sultans zu verbin¬
den, dies sei durch Thatsachen (welche wird nicht gesagt) so erhärtet, daß es
Unnöthig, entgegenstehende übelwollende Behauptungen zu widerlegen; ebenso
Wird als erwiesen angenommen, daß alle bisherigen Reformversuche unfrucht¬
bar geblieben, oder ins Gegentheil umgeschlagen seien; dies könne auch gar


so trat das merkwürdige Werk ans Licht, welches klar zeigt, was es mit den
russischen Betheuerungen für Humanität und Christenthum auf sich hat.
Aber schon vorher hatte Prokesch Gelegenheit, auf dem diplomatischen Felde
dem russischen Cabinete erfolgreich entgegenzuwirken. Ende Februar hatte
Marquis de Moustier eine Denkschrift über die in der Türkei ausgeführten
Reformen verfaßt, in welcher er davon ausging, daß der Hatti-Hamayoum
von 1856 die für das Wohl der Bevölkerungen nothwendigen Grundlagen
festgestellt habe und daß es sich nur darum handle, die Pforte zur Ausfüh¬
rung derselben anzuhalten. Dies ist eine unzweifelhaft richtige Auffassung,
die z. B. auch von dem größten englischen Kenner der türkischen Zustande,
Lord Stratford de Ratcliffe, getheilt wird, aber die Verwirklichung eines
solchen Planes paßte dem Fürsten Gortschakow nicht, denn sie hätte dazu
geführt, die Verwaltung der Pforte, welche in entfernten Gebieten bisher
ohnmächtig war, zu stärken. Er beeilte sich also, sobald Baron Talleyrand
ihm das Memoire seines Chefs mitgetheilt, an die Großmächte eine lange
Depesche zu richten, um zu zeigen, daß alle vom Sultan bisher proklamirten
und versprochenen Reformen ein todter Buchstabe geblieben. Rußland sei
noch immer geneigt, dem Sultan die Initiative in der Ausübung seiner
souveränen Rechte zu lassen, aber die christlichen Bevölkerungen hätten nicht
vergessen, daß auch der Hatti-Hamayoum freiwillig vom Sultan gegeben sei,
ihnen aber keinerlei Erleichterung gebracht, obwohl der pariser Friedensvertrag
auf ihn verwiesen habe; aber wenn man zu einer friedlichen Lösung der
gegenwärtigen Verwicklung kommen wolle, so sei die Hauptsache, den christ¬
lichen Bevölkerungen Zutrauen einzuflößen, was nicht durch einen bloßen
Appell an ein discreditirtes Dokument geschehen könne, sondern nur, wenn
neue Bestimmungen über ihre künftige Lage von der Pforte unter Mitwir¬
kung der christlichen Mächte, wodurch die Ehre derselben engagirt werde,
ausgearbeitet würden. — Dieser Mittheilung des Kanzlers folgte am 6. April
eine ausführliche Denkschrift, welche ein vollkommenes Nesormprojekt ent¬
wickelt, von dem Gesichtspunkte ausgehend, daß nicht eine größere Centra¬
lisation, sondern im Gegentheil die vollkommenste Decentralisation der Ver¬
waltung in der Türkei durchgeführt werden müsse, um das Loos der Chri¬
sten gründlich zu verbessern. Das Memoire beginnt mit den herkömmlichen
Versicherungen des ZeLmt^iessemLnt absolu der kaiserlichen Politik, deren
Augenmerk nur der aufrichtige Wunsch sei, das Wohlergehen der griechischen
Neligionsgenossen mit der Erhaltung der Autorität des Sultans zu verbin¬
den, dies sei durch Thatsachen (welche wird nicht gesagt) so erhärtet, daß es
Unnöthig, entgegenstehende übelwollende Behauptungen zu widerlegen; ebenso
Wird als erwiesen angenommen, daß alle bisherigen Reformversuche unfrucht¬
bar geblieben, oder ins Gegentheil umgeschlagen seien; dies könne auch gar


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/109>, abgerufen am 22.07.2024.