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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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schen und Bedenken kennen. Wir lesen I. S. 143, wo Horvöth die Gründe
für und gegen den Anschluß Ungarns an den deutschen Zollverein angiebt und
die Sorge Einzelner, die ungarische Industrie würde durch den Anschluß gelähmt
werden, hervorhebt: "Andere bezweifelten, nicht ohne Berechtigung, das Zu"
treffende solcher Sorgen, dagegen glaubten sie um so fester, daß der Anschluß
unserer noch nicht genug gekräftigten Nationalität zum Nachtheile gereichen
würde. Der deutsche Zollverein hat zur politischen Einigung des deutschen Volkes
so viel beigetragen, daß man behaupten darf: Jedes Land, welches sich dem
deutschen Zollvereine angeschlossen hat, ist ein Glied der deutschen Nation ge¬
worden, muß früher oder später deutsch werden. Ein großer Theil der In-
dustriellen Ungarns ist deutsch. Wenn Ungarn mit Deutschland in finan¬
ziellen und commerziellen Interessen gleichsam zu einer Familie verschmilzt,
so wird das deutsche Element unseres Vaterlandes, von der ungeheuren mora¬
lischen Macht des Zollvereins getragen, ein solches Uebergewicht erlangen,
daß die ungarische Nation über kurz oder lang ihren sichern Untergang fände."

Unverhüllt schauen wir hier das Ziel der neuen ungarischen Politik: Er¬
haltung der Nationalität. Aber so einfach wie es ausgesprochen wird, ließ sich
dasselbe nicht erreichen. Die sicherste Gewähr für die Fortdauer der ungarischen
Nationalität bildete die alte Verfassung. So lange diese von dem wiener
Hose und den östreichischen Staatsmännern bedroht und nach Kräften verletzt
wurde, so lange alle Anstrengungen der Patrioten aus die Deckung der Ver-
sassungsgrundlagen gerichtet waren, hatte es keine Gefahren, daß sich in Ungarn
selbst ein kritischer Geist regen und die Verfassung nach ihrem innern Werthe
werde geprüft werden. Als aber der hitzigste Kampf vorüber und. Dank dem
zähen Widerstande der Ungarn, die Verfassung wenigstens theilweise in Wirk¬
samkeit gesetzt war, merkten gerade die besten Vaterlandsfreunde, daß die Zeit
der avitischen Constituiion vorüber, ohne gründliche Verfassungsänderungen die
Wohlfahrt der Nation nicht zu erreichen sei. In der ungarischen Constituiion
hatte sich ein prächtiges Stück Mittelalter unversehrt erhalten; eigenthümlich ist der¬
selben kaum etwas anderes, als daß noch im neunzehnten Jahrhundert in ihr galt,
was überall sonst im fünfzehnten Jahrhundert und noch früher abgeschafft worden
war. Die Verfassung noch länger zu conserviren war kaum möglich, die Wand¬
lung aber der mittelalterlichen Staatsform in moderne Institutionen in Ungarn
mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft. In Italien, in Frankreich, in Deutsch¬
land gewann nur die Nation an Rechten, das Volksthum an Macht und Glanz,
was die Munizipien, die Provinzen und einzelnen Landschaften an Vorrechten
und besonderen politischen Eigenthümlichkeiten verloren. Hier überall umspannt
eine Nationalität mehre politische Kreise und es galt, die nationale Einheit
auch auf den staatlichen Organismus auszudehnen. Anders in Ungarn. Die
ungarische Nationalität kann nicht über politische Zersplitterung klagen, sie exi-


schen und Bedenken kennen. Wir lesen I. S. 143, wo Horvöth die Gründe
für und gegen den Anschluß Ungarns an den deutschen Zollverein angiebt und
die Sorge Einzelner, die ungarische Industrie würde durch den Anschluß gelähmt
werden, hervorhebt: „Andere bezweifelten, nicht ohne Berechtigung, das Zu«
treffende solcher Sorgen, dagegen glaubten sie um so fester, daß der Anschluß
unserer noch nicht genug gekräftigten Nationalität zum Nachtheile gereichen
würde. Der deutsche Zollverein hat zur politischen Einigung des deutschen Volkes
so viel beigetragen, daß man behaupten darf: Jedes Land, welches sich dem
deutschen Zollvereine angeschlossen hat, ist ein Glied der deutschen Nation ge¬
worden, muß früher oder später deutsch werden. Ein großer Theil der In-
dustriellen Ungarns ist deutsch. Wenn Ungarn mit Deutschland in finan¬
ziellen und commerziellen Interessen gleichsam zu einer Familie verschmilzt,
so wird das deutsche Element unseres Vaterlandes, von der ungeheuren mora¬
lischen Macht des Zollvereins getragen, ein solches Uebergewicht erlangen,
daß die ungarische Nation über kurz oder lang ihren sichern Untergang fände."

Unverhüllt schauen wir hier das Ziel der neuen ungarischen Politik: Er¬
haltung der Nationalität. Aber so einfach wie es ausgesprochen wird, ließ sich
dasselbe nicht erreichen. Die sicherste Gewähr für die Fortdauer der ungarischen
Nationalität bildete die alte Verfassung. So lange diese von dem wiener
Hose und den östreichischen Staatsmännern bedroht und nach Kräften verletzt
wurde, so lange alle Anstrengungen der Patrioten aus die Deckung der Ver-
sassungsgrundlagen gerichtet waren, hatte es keine Gefahren, daß sich in Ungarn
selbst ein kritischer Geist regen und die Verfassung nach ihrem innern Werthe
werde geprüft werden. Als aber der hitzigste Kampf vorüber und. Dank dem
zähen Widerstande der Ungarn, die Verfassung wenigstens theilweise in Wirk¬
samkeit gesetzt war, merkten gerade die besten Vaterlandsfreunde, daß die Zeit
der avitischen Constituiion vorüber, ohne gründliche Verfassungsänderungen die
Wohlfahrt der Nation nicht zu erreichen sei. In der ungarischen Constituiion
hatte sich ein prächtiges Stück Mittelalter unversehrt erhalten; eigenthümlich ist der¬
selben kaum etwas anderes, als daß noch im neunzehnten Jahrhundert in ihr galt,
was überall sonst im fünfzehnten Jahrhundert und noch früher abgeschafft worden
war. Die Verfassung noch länger zu conserviren war kaum möglich, die Wand¬
lung aber der mittelalterlichen Staatsform in moderne Institutionen in Ungarn
mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft. In Italien, in Frankreich, in Deutsch¬
land gewann nur die Nation an Rechten, das Volksthum an Macht und Glanz,
was die Munizipien, die Provinzen und einzelnen Landschaften an Vorrechten
und besonderen politischen Eigenthümlichkeiten verloren. Hier überall umspannt
eine Nationalität mehre politische Kreise und es galt, die nationale Einheit
auch auf den staatlichen Organismus auszudehnen. Anders in Ungarn. Die
ungarische Nationalität kann nicht über politische Zersplitterung klagen, sie exi-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/8>, abgerufen am 20.10.2024.