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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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aus der einseitigen Bekanntschaft mit den größten Dichtern der Nation nimmermehr
gewonnen werden können, es wird vielmehr nothwendig sein, auf die Schriftsteller
zurückzugehen, welche zunächst aus dem Bewußtsein ihrer Zeit herausschrieben, Licht
und Schattenseiten derselben in charakteristischer Weise repräsentirten. In dieser
Rücksicht können Seume und Voß wichtiger genannt werden, als manche ihrer ge¬
feiertsten Zeitgenossen, die sie an Talent weit überragten. Für besonders dankens-
werth halten wir es, daß neben den genannten Schriften auch Justus Mösers
"patriotische Phantasien" neu aufgelegt und der zeitgenössischen Lesewelt zugänglich
gemacht worden sind. Von den Schriftstellern des 18. Jahrhunderts war Justus
Möser vielleicht der am meisten politische. Die Sicherheit, mit welcher er in der
Zeit einer kosmopolitisch heimatlosen Bildung und allgemeiner Entfremdung von
den nationalen Traditionen aus den preußischen Staat hinwies, und ahnungsvoll
verkündete, "unser historischer Stil werde sich in dem Verhältniß bessern, in welchem
der preußische Name sich auszeichne, da große Empfindungen immer nur von großen
Ereignissen herrühren könnten", die Unerschrockenheit, mit welcher er aussprach,
wir müßten "Nationalinteressen erhalten, bevor wir die Begebenheiten mächtiger
empfinden und fruchtbarer ausdrücken könnten", wir müßten, um eine wirkliche
Nation zu werden, "unsere Ehre nicht mehr im Dienst und der Gelehrsamkeit, son¬
dern in der Erreichung der Zwecke beider suchen", -- sichert Möser den Anspruch
auf einen Ehrenplatz in dem Herzen der Generation, welcher es beschicken gewesen,
die Erreichung des Ziels zu erleben, auf welches der alte westphälische Jurist in den
Tagen tiefster Erniedrigung aus seiner einsamen Studierstube hinwies. Der Mann,
dem "der beste Gesang ein Bardiet, zur Vertheidigung des Vaterlandes in der
Schlacht gesungen", der "beste Tanz" der war, "der auf eine feindliche Batterie
führte" und der für die deutsche Bühne ein Schauspiel verlangte, "das der Nation
einen hohen Muth gibt, nicht aber dem schwachen Ausschuß des Menschengeschlechts
seine leeren Stunden vertreibt oder das Herz einer Hofdame schmachten macht", ver¬
dient wahrlich in dem Gedächtniß seines Volks länger zu leben als die große Zahl
derer, die zu der Schwachhcrzigkeit ihres Jahrhunderts bewußt oder unbewußt bei¬
trugen und doch gewohnheitsmäßig von einer Generation in die andere hinüber¬
genommen werden.

Von der Fortführung des in Rede stehenden Brockhausschen Unternehmens
hoffen und wünschen wir, daß dasselbe sich ganz besonders dem 18. Jahrhundert
und zwar den Schriftstellern zuwende, welche dem Bewußtsein unserer Zeit mehr oder
minder abhanden gekommen sind; auf diese Weise würde die "Bibliothek" an Plan¬
mäßigkeit und Zusammenhang gewinnen, Tugenden von welchen bei der Mehrzahl
ähnlicher Unternehmungen abgesehen worden ist. Nach der Anlage des Ganzen steht
zu hoffen, von der Aufnahme vereinzelter Werke unserer eigentlichen Klassiker
(Göthes Faust, herausgegeben von Moritz Carriere, und Lessings Emilia Galotti,
Minna v. Barnhelm und Nathan, herausgegeben von Hermann Hettner), die in die
vorliegende Sammlung mit hineingezogen worden, werde in Zukunft abgesehen
und auf diese Weise der Brockhausschen Classikerbibliothck ein selbständiger und
eigenthümlicher Werth gesichert werden.




aus der einseitigen Bekanntschaft mit den größten Dichtern der Nation nimmermehr
gewonnen werden können, es wird vielmehr nothwendig sein, auf die Schriftsteller
zurückzugehen, welche zunächst aus dem Bewußtsein ihrer Zeit herausschrieben, Licht
und Schattenseiten derselben in charakteristischer Weise repräsentirten. In dieser
Rücksicht können Seume und Voß wichtiger genannt werden, als manche ihrer ge¬
feiertsten Zeitgenossen, die sie an Talent weit überragten. Für besonders dankens-
werth halten wir es, daß neben den genannten Schriften auch Justus Mösers
„patriotische Phantasien" neu aufgelegt und der zeitgenössischen Lesewelt zugänglich
gemacht worden sind. Von den Schriftstellern des 18. Jahrhunderts war Justus
Möser vielleicht der am meisten politische. Die Sicherheit, mit welcher er in der
Zeit einer kosmopolitisch heimatlosen Bildung und allgemeiner Entfremdung von
den nationalen Traditionen aus den preußischen Staat hinwies, und ahnungsvoll
verkündete, „unser historischer Stil werde sich in dem Verhältniß bessern, in welchem
der preußische Name sich auszeichne, da große Empfindungen immer nur von großen
Ereignissen herrühren könnten", die Unerschrockenheit, mit welcher er aussprach,
wir müßten „Nationalinteressen erhalten, bevor wir die Begebenheiten mächtiger
empfinden und fruchtbarer ausdrücken könnten", wir müßten, um eine wirkliche
Nation zu werden, „unsere Ehre nicht mehr im Dienst und der Gelehrsamkeit, son¬
dern in der Erreichung der Zwecke beider suchen", — sichert Möser den Anspruch
auf einen Ehrenplatz in dem Herzen der Generation, welcher es beschicken gewesen,
die Erreichung des Ziels zu erleben, auf welches der alte westphälische Jurist in den
Tagen tiefster Erniedrigung aus seiner einsamen Studierstube hinwies. Der Mann,
dem „der beste Gesang ein Bardiet, zur Vertheidigung des Vaterlandes in der
Schlacht gesungen", der „beste Tanz" der war, „der auf eine feindliche Batterie
führte" und der für die deutsche Bühne ein Schauspiel verlangte, „das der Nation
einen hohen Muth gibt, nicht aber dem schwachen Ausschuß des Menschengeschlechts
seine leeren Stunden vertreibt oder das Herz einer Hofdame schmachten macht", ver¬
dient wahrlich in dem Gedächtniß seines Volks länger zu leben als die große Zahl
derer, die zu der Schwachhcrzigkeit ihres Jahrhunderts bewußt oder unbewußt bei¬
trugen und doch gewohnheitsmäßig von einer Generation in die andere hinüber¬
genommen werden.

Von der Fortführung des in Rede stehenden Brockhausschen Unternehmens
hoffen und wünschen wir, daß dasselbe sich ganz besonders dem 18. Jahrhundert
und zwar den Schriftstellern zuwende, welche dem Bewußtsein unserer Zeit mehr oder
minder abhanden gekommen sind; auf diese Weise würde die „Bibliothek" an Plan¬
mäßigkeit und Zusammenhang gewinnen, Tugenden von welchen bei der Mehrzahl
ähnlicher Unternehmungen abgesehen worden ist. Nach der Anlage des Ganzen steht
zu hoffen, von der Aufnahme vereinzelter Werke unserer eigentlichen Klassiker
(Göthes Faust, herausgegeben von Moritz Carriere, und Lessings Emilia Galotti,
Minna v. Barnhelm und Nathan, herausgegeben von Hermann Hettner), die in die
vorliegende Sammlung mit hineingezogen worden, werde in Zukunft abgesehen
und auf diese Weise der Brockhausschen Classikerbibliothck ein selbständiger und
eigenthümlicher Werth gesichert werden.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/527>, abgerufen am 27.09.2024.