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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Bundesverfassung am wenigsten wissen wollten, haben sich am lebhaftesten be-
eifert, das von derselben adoptirte allgemeine Stimmrecht für ein deutsches,
beziehungsweise sächsisches Grundrecht zu erklären, dessen Anerkennung die Vor¬
ausbedingung zum Friedensschluß in der sächsischen Verfassungsfrage sei. Freilich
soll die Diätenlosigkeit, durch welche jenes Stimmrecht seine Beschränkung
erhält, nicht aus der Bundesverfassung mit hinüber genommen werden, denn
die Männer der Volkspartei, die eigentlichen Träger der Bewegung, sehen
den Anspruch aus Vergütung der von den Volksvertretern für das Wohl des
Vaterlandes aufgewandten Zeit und Mühe, für eines der theuersten Güter
deutscher Volksfreiheit ein. Mit einem Eifer, den man der Sache des gesamm-
ten Vaterlandes oft genug s.,buldig geblieben ist und dessen eigentlichen Nerv
das erhebende Bewußtsein bildet, es handle sich diesmal um eine specifisch
sächsische Sache, in welche das übrige Deutschland nichts drein zu reden habe,
wird gegen dieselbe Negierung, deren "Freisinn" man häufig genug dem preußi¬
schen "Junkerthum" anzupreisen für nothwendig hielt, agitirt und discutirt. Die
Gewohnheit, die Angelegenheiten des Cantons für die eigentlichen Lebens¬
fragen anzusehen, hat unbeschadet der Thatsache, daß den lokalen Landtagen
seit Errichtung des neuen Bundes blos beschränkte Bedeutung innewohnt, ihr
altes Recht geltend gemacht, und wie in den Zeiten des durchlauchtigen deutschen
Bundestages steht wieder der Kirchthurm im Mittelpunkt aller Interessen. Dem
berechtigten Streben nach Abstreifung der Fesseln, in welche die Bcustsche Ver¬
fassungsänderung die sächsische Volksvertretung geschlagen hat, mischen sich Mo¬
tive der zweifelhaftesten Art zu, man fühlt sich bereits in die "besseren Tage"
versetzt, deren Wiederkehr der "Kalender der sächsischen Militärvereine" noch
neuerdings so zuversichtlich prophezeit hat, und es ist wie eine Symbolik der künf¬
tigen vielköpfigen Herrlichkeit, daß die Zahl der verschiedenen Meinungen über die
brennende Frage bereits fast so groß wurde, als die der streitenden Köpfe.

Die Hauptschuld daran, daß das projektirte neue Wahlgesetz zu einer Agitation
Veranlassung gegeben hat, deren Ziel und Zweck manchen Agitatoren selbst unklar
ist, trägt aber nicht das sächsische Volk, sondern dessen Vertretung und zwar die
erste Kammer. Die blinde Leidenschaftlichkeit, mit welcher eine Pairie, die in
Wahrheit jeder wirklichen Grundlage ihrer Ansprüche auf selbständige Bedeu¬
tung entbehrt, den Kochschcn Anträgen begegnet ist, war in der That dazu
angethan, die Erbitterung des Volks zu provociren und dasselbe im voraus
gegen die Reformpläne mißtrauisch zu machen, mit denen sich die Negierung
trug. Als diese veröffentlicht wurden, mußten sich alle, die an den öffentlichen
Angelegenheiten überhaupt Antheil nahmen, sagen, daß eine Reform, welche der
ersten Kammer im wesentlichen ih ren bisherigen Bestand sicherte, alle Concessio¬
nen an das Volksbedürfniß, welche der zweiten Kammer gemacht wurden,
illusorisch erscheinen lasse. Daß die Gesichtspunkte für eine billige Beurtheilung


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Bundesverfassung am wenigsten wissen wollten, haben sich am lebhaftesten be-
eifert, das von derselben adoptirte allgemeine Stimmrecht für ein deutsches,
beziehungsweise sächsisches Grundrecht zu erklären, dessen Anerkennung die Vor¬
ausbedingung zum Friedensschluß in der sächsischen Verfassungsfrage sei. Freilich
soll die Diätenlosigkeit, durch welche jenes Stimmrecht seine Beschränkung
erhält, nicht aus der Bundesverfassung mit hinüber genommen werden, denn
die Männer der Volkspartei, die eigentlichen Träger der Bewegung, sehen
den Anspruch aus Vergütung der von den Volksvertretern für das Wohl des
Vaterlandes aufgewandten Zeit und Mühe, für eines der theuersten Güter
deutscher Volksfreiheit ein. Mit einem Eifer, den man der Sache des gesamm-
ten Vaterlandes oft genug s.,buldig geblieben ist und dessen eigentlichen Nerv
das erhebende Bewußtsein bildet, es handle sich diesmal um eine specifisch
sächsische Sache, in welche das übrige Deutschland nichts drein zu reden habe,
wird gegen dieselbe Negierung, deren „Freisinn" man häufig genug dem preußi¬
schen „Junkerthum" anzupreisen für nothwendig hielt, agitirt und discutirt. Die
Gewohnheit, die Angelegenheiten des Cantons für die eigentlichen Lebens¬
fragen anzusehen, hat unbeschadet der Thatsache, daß den lokalen Landtagen
seit Errichtung des neuen Bundes blos beschränkte Bedeutung innewohnt, ihr
altes Recht geltend gemacht, und wie in den Zeiten des durchlauchtigen deutschen
Bundestages steht wieder der Kirchthurm im Mittelpunkt aller Interessen. Dem
berechtigten Streben nach Abstreifung der Fesseln, in welche die Bcustsche Ver¬
fassungsänderung die sächsische Volksvertretung geschlagen hat, mischen sich Mo¬
tive der zweifelhaftesten Art zu, man fühlt sich bereits in die „besseren Tage"
versetzt, deren Wiederkehr der „Kalender der sächsischen Militärvereine" noch
neuerdings so zuversichtlich prophezeit hat, und es ist wie eine Symbolik der künf¬
tigen vielköpfigen Herrlichkeit, daß die Zahl der verschiedenen Meinungen über die
brennende Frage bereits fast so groß wurde, als die der streitenden Köpfe.

Die Hauptschuld daran, daß das projektirte neue Wahlgesetz zu einer Agitation
Veranlassung gegeben hat, deren Ziel und Zweck manchen Agitatoren selbst unklar
ist, trägt aber nicht das sächsische Volk, sondern dessen Vertretung und zwar die
erste Kammer. Die blinde Leidenschaftlichkeit, mit welcher eine Pairie, die in
Wahrheit jeder wirklichen Grundlage ihrer Ansprüche auf selbständige Bedeu¬
tung entbehrt, den Kochschcn Anträgen begegnet ist, war in der That dazu
angethan, die Erbitterung des Volks zu provociren und dasselbe im voraus
gegen die Reformpläne mißtrauisch zu machen, mit denen sich die Negierung
trug. Als diese veröffentlicht wurden, mußten sich alle, die an den öffentlichen
Angelegenheiten überhaupt Antheil nahmen, sagen, daß eine Reform, welche der
ersten Kammer im wesentlichen ih ren bisherigen Bestand sicherte, alle Concessio¬
nen an das Volksbedürfniß, welche der zweiten Kammer gemacht wurden,
illusorisch erscheinen lasse. Daß die Gesichtspunkte für eine billige Beurtheilung


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[0483] Bundesverfassung am wenigsten wissen wollten, haben sich am lebhaftesten be- eifert, das von derselben adoptirte allgemeine Stimmrecht für ein deutsches, beziehungsweise sächsisches Grundrecht zu erklären, dessen Anerkennung die Vor¬ ausbedingung zum Friedensschluß in der sächsischen Verfassungsfrage sei. Freilich soll die Diätenlosigkeit, durch welche jenes Stimmrecht seine Beschränkung erhält, nicht aus der Bundesverfassung mit hinüber genommen werden, denn die Männer der Volkspartei, die eigentlichen Träger der Bewegung, sehen den Anspruch aus Vergütung der von den Volksvertretern für das Wohl des Vaterlandes aufgewandten Zeit und Mühe, für eines der theuersten Güter deutscher Volksfreiheit ein. Mit einem Eifer, den man der Sache des gesamm- ten Vaterlandes oft genug s.,buldig geblieben ist und dessen eigentlichen Nerv das erhebende Bewußtsein bildet, es handle sich diesmal um eine specifisch sächsische Sache, in welche das übrige Deutschland nichts drein zu reden habe, wird gegen dieselbe Negierung, deren „Freisinn" man häufig genug dem preußi¬ schen „Junkerthum" anzupreisen für nothwendig hielt, agitirt und discutirt. Die Gewohnheit, die Angelegenheiten des Cantons für die eigentlichen Lebens¬ fragen anzusehen, hat unbeschadet der Thatsache, daß den lokalen Landtagen seit Errichtung des neuen Bundes blos beschränkte Bedeutung innewohnt, ihr altes Recht geltend gemacht, und wie in den Zeiten des durchlauchtigen deutschen Bundestages steht wieder der Kirchthurm im Mittelpunkt aller Interessen. Dem berechtigten Streben nach Abstreifung der Fesseln, in welche die Bcustsche Ver¬ fassungsänderung die sächsische Volksvertretung geschlagen hat, mischen sich Mo¬ tive der zweifelhaftesten Art zu, man fühlt sich bereits in die „besseren Tage" versetzt, deren Wiederkehr der „Kalender der sächsischen Militärvereine" noch neuerdings so zuversichtlich prophezeit hat, und es ist wie eine Symbolik der künf¬ tigen vielköpfigen Herrlichkeit, daß die Zahl der verschiedenen Meinungen über die brennende Frage bereits fast so groß wurde, als die der streitenden Köpfe. Die Hauptschuld daran, daß das projektirte neue Wahlgesetz zu einer Agitation Veranlassung gegeben hat, deren Ziel und Zweck manchen Agitatoren selbst unklar ist, trägt aber nicht das sächsische Volk, sondern dessen Vertretung und zwar die erste Kammer. Die blinde Leidenschaftlichkeit, mit welcher eine Pairie, die in Wahrheit jeder wirklichen Grundlage ihrer Ansprüche auf selbständige Bedeu¬ tung entbehrt, den Kochschcn Anträgen begegnet ist, war in der That dazu angethan, die Erbitterung des Volks zu provociren und dasselbe im voraus gegen die Reformpläne mißtrauisch zu machen, mit denen sich die Negierung trug. Als diese veröffentlicht wurden, mußten sich alle, die an den öffentlichen Angelegenheiten überhaupt Antheil nahmen, sagen, daß eine Reform, welche der ersten Kammer im wesentlichen ih ren bisherigen Bestand sicherte, alle Concessio¬ nen an das Volksbedürfniß, welche der zweiten Kammer gemacht wurden, illusorisch erscheinen lasse. Daß die Gesichtspunkte für eine billige Beurtheilung el*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/483>, abgerufen am 20.10.2024.