Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sie den Kops des Sokrates auf die andere Seite, stieß ihm das Schwert bis
ans Heft in die linke Seite hinein und fing mit einem kleinen Schlauch das
hervorströmende Blut sorgfältig auf, daß auch kein Tropfen vergossen wurde.
Und das habe ich mit meinen Augen angesehen. Dann, damit sie ihr Schlacht-
opfer ganz nach dem Ritus behandelte,") steckte sie ihre Rechte durch die Wunde
tief ins Eingeweide und holte nach langem Suchen das Herz meines armen
Kameraden heraus, der, da ihm die Lunge zerschnitten war, die Luft pfeifend
durch die Wunde entströmen ließ. Panthia verstopfte darauf die klaffende
Wunde mit dem Schwamm, und sagte dazu: "Schwamm, Schwamm, Meeres¬
kind, hüte dich übern Fluß zu gehen!" Hieraus räumten sie mein Bett weg,
setzten sich rittlings auf mich und verunreinigten mich auf ekelhafte Weise.-

Kaum waren sie über die Schwelle, da erhoben sich die Thüren unversehrt,
die Pfosten richten sich auf, die Angeln springen ein, die Riegel schließen.
Ich aber, wie ich da auf der Erde lag, regungslos, matt, kalt, schmutzig, als
käme ich eben aus dem Mutterleib, halbtodt oder eigentlich als hätte ich mich
selbst überlebt, ein vollständiger Galgencandidat, dachte: "Was soll aus mir
werden, wenn man in der Frühe den Ermordeten findet? Wer wird mir
glauben, wenn ich die Wahrheit berichte? Du hättest doch um Hilfe rufen können,
wenn du nicht Manns genug warst, den Weibern Widerstand zu leisten! Unter
deinen Augen wird ein Mensch getödtet und du schweigst? warum haben dich
denn die Mörder nicht umgebracht? wie konnte man bei solcher Grausamkeit
den künftigen Angeber verschonen? Weil du damals dem Tode entgangen bist,
wirst du ihn jetzt erleiden." Unter solchen Betrachtungen verging die Nacht,
und da schien es am gerathensten, in der Dämmerung heimlich zu entweichen
und mich mit meiner Angst auf den Weg zu machen. Ich nehme mein Gepäck
auf und schiebe mit dem Schlüssel den Riegel zurück; aber die zuverlässige Thür,
die in der Nacht von selbst ausgegangen war, war jetzt nur mit Mühe und
wiederholten Anstrengungen zu öffnen. "Heda, wo bist du?" rief ich "mach
das Thor auf, ich will vor Tagesanbruch fortgehen." Der Thürhüter, der am
Eingang auf der Erde schlief, antwortete halb im Schlaf: "Was? weißt du
nicht, daß die Landstraße von Räubern unsicher ist, daß du so früh fortwillst?
Wenn du auch vielleicht ein Verbrechen aus der Seele hast und sterben willst,
so sind unsere Köpfe doch keine Kürbisse, die wir deinetwegen hingeben möchten."
"Es ist gleich Tag," sagte ich "und was können Räuber einem armen Rei¬
senden abnehmen? Weißt du nicht, du Narr, daß einen Nackten zehn Bade-
knechte nicht entkleiden können?" Der drehte sich schlaftrunken auf die andere
Seite und sagte: "Wer sagt mir denn, ob du nicht deinen Reisegefährten, mit



') Wie es beim Opferthier geschah, dessen Eingeweide untersucht wurden, der Vorbedeu¬
tung wegen.

sie den Kops des Sokrates auf die andere Seite, stieß ihm das Schwert bis
ans Heft in die linke Seite hinein und fing mit einem kleinen Schlauch das
hervorströmende Blut sorgfältig auf, daß auch kein Tropfen vergossen wurde.
Und das habe ich mit meinen Augen angesehen. Dann, damit sie ihr Schlacht-
opfer ganz nach dem Ritus behandelte,") steckte sie ihre Rechte durch die Wunde
tief ins Eingeweide und holte nach langem Suchen das Herz meines armen
Kameraden heraus, der, da ihm die Lunge zerschnitten war, die Luft pfeifend
durch die Wunde entströmen ließ. Panthia verstopfte darauf die klaffende
Wunde mit dem Schwamm, und sagte dazu: „Schwamm, Schwamm, Meeres¬
kind, hüte dich übern Fluß zu gehen!" Hieraus räumten sie mein Bett weg,
setzten sich rittlings auf mich und verunreinigten mich auf ekelhafte Weise.-

Kaum waren sie über die Schwelle, da erhoben sich die Thüren unversehrt,
die Pfosten richten sich auf, die Angeln springen ein, die Riegel schließen.
Ich aber, wie ich da auf der Erde lag, regungslos, matt, kalt, schmutzig, als
käme ich eben aus dem Mutterleib, halbtodt oder eigentlich als hätte ich mich
selbst überlebt, ein vollständiger Galgencandidat, dachte: „Was soll aus mir
werden, wenn man in der Frühe den Ermordeten findet? Wer wird mir
glauben, wenn ich die Wahrheit berichte? Du hättest doch um Hilfe rufen können,
wenn du nicht Manns genug warst, den Weibern Widerstand zu leisten! Unter
deinen Augen wird ein Mensch getödtet und du schweigst? warum haben dich
denn die Mörder nicht umgebracht? wie konnte man bei solcher Grausamkeit
den künftigen Angeber verschonen? Weil du damals dem Tode entgangen bist,
wirst du ihn jetzt erleiden." Unter solchen Betrachtungen verging die Nacht,
und da schien es am gerathensten, in der Dämmerung heimlich zu entweichen
und mich mit meiner Angst auf den Weg zu machen. Ich nehme mein Gepäck
auf und schiebe mit dem Schlüssel den Riegel zurück; aber die zuverlässige Thür,
die in der Nacht von selbst ausgegangen war, war jetzt nur mit Mühe und
wiederholten Anstrengungen zu öffnen. „Heda, wo bist du?" rief ich „mach
das Thor auf, ich will vor Tagesanbruch fortgehen." Der Thürhüter, der am
Eingang auf der Erde schlief, antwortete halb im Schlaf: „Was? weißt du
nicht, daß die Landstraße von Räubern unsicher ist, daß du so früh fortwillst?
Wenn du auch vielleicht ein Verbrechen aus der Seele hast und sterben willst,
so sind unsere Köpfe doch keine Kürbisse, die wir deinetwegen hingeben möchten."
„Es ist gleich Tag," sagte ich „und was können Räuber einem armen Rei¬
senden abnehmen? Weißt du nicht, du Narr, daß einen Nackten zehn Bade-
knechte nicht entkleiden können?" Der drehte sich schlaftrunken auf die andere
Seite und sagte: „Wer sagt mir denn, ob du nicht deinen Reisegefährten, mit



') Wie es beim Opferthier geschah, dessen Eingeweide untersucht wurden, der Vorbedeu¬
tung wegen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0456" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192217"/>
            <p xml:id="ID_1275" prev="#ID_1274"> sie den Kops des Sokrates auf die andere Seite, stieß ihm das Schwert bis<lb/>
ans Heft in die linke Seite hinein und fing mit einem kleinen Schlauch das<lb/>
hervorströmende Blut sorgfältig auf, daß auch kein Tropfen vergossen wurde.<lb/>
Und das habe ich mit meinen Augen angesehen. Dann, damit sie ihr Schlacht-<lb/>
opfer ganz nach dem Ritus behandelte,") steckte sie ihre Rechte durch die Wunde<lb/>
tief ins Eingeweide und holte nach langem Suchen das Herz meines armen<lb/>
Kameraden heraus, der, da ihm die Lunge zerschnitten war, die Luft pfeifend<lb/>
durch die Wunde entströmen ließ. Panthia verstopfte darauf die klaffende<lb/>
Wunde mit dem Schwamm, und sagte dazu: &#x201E;Schwamm, Schwamm, Meeres¬<lb/>
kind, hüte dich übern Fluß zu gehen!" Hieraus räumten sie mein Bett weg,<lb/>
setzten sich rittlings auf mich und verunreinigten mich auf ekelhafte Weise.-</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1276" next="#ID_1277"> Kaum waren sie über die Schwelle, da erhoben sich die Thüren unversehrt,<lb/>
die Pfosten richten sich auf, die Angeln springen ein, die Riegel schließen.<lb/>
Ich aber, wie ich da auf der Erde lag, regungslos, matt, kalt, schmutzig, als<lb/>
käme ich eben aus dem Mutterleib, halbtodt oder eigentlich als hätte ich mich<lb/>
selbst überlebt, ein vollständiger Galgencandidat, dachte: &#x201E;Was soll aus mir<lb/>
werden, wenn man in der Frühe den Ermordeten findet? Wer wird mir<lb/>
glauben, wenn ich die Wahrheit berichte? Du hättest doch um Hilfe rufen können,<lb/>
wenn du nicht Manns genug warst, den Weibern Widerstand zu leisten! Unter<lb/>
deinen Augen wird ein Mensch getödtet und du schweigst? warum haben dich<lb/>
denn die Mörder nicht umgebracht? wie konnte man bei solcher Grausamkeit<lb/>
den künftigen Angeber verschonen? Weil du damals dem Tode entgangen bist,<lb/>
wirst du ihn jetzt erleiden." Unter solchen Betrachtungen verging die Nacht,<lb/>
und da schien es am gerathensten, in der Dämmerung heimlich zu entweichen<lb/>
und mich mit meiner Angst auf den Weg zu machen. Ich nehme mein Gepäck<lb/>
auf und schiebe mit dem Schlüssel den Riegel zurück; aber die zuverlässige Thür,<lb/>
die in der Nacht von selbst ausgegangen war, war jetzt nur mit Mühe und<lb/>
wiederholten Anstrengungen zu öffnen. &#x201E;Heda, wo bist du?" rief ich &#x201E;mach<lb/>
das Thor auf, ich will vor Tagesanbruch fortgehen." Der Thürhüter, der am<lb/>
Eingang auf der Erde schlief, antwortete halb im Schlaf: &#x201E;Was? weißt du<lb/>
nicht, daß die Landstraße von Räubern unsicher ist, daß du so früh fortwillst?<lb/>
Wenn du auch vielleicht ein Verbrechen aus der Seele hast und sterben willst,<lb/>
so sind unsere Köpfe doch keine Kürbisse, die wir deinetwegen hingeben möchten."<lb/>
&#x201E;Es ist gleich Tag," sagte ich &#x201E;und was können Räuber einem armen Rei¬<lb/>
senden abnehmen? Weißt du nicht, du Narr, daß einen Nackten zehn Bade-<lb/>
knechte nicht entkleiden können?" Der drehte sich schlaftrunken auf die andere<lb/>
Seite und sagte: &#x201E;Wer sagt mir denn, ob du nicht deinen Reisegefährten, mit</p><lb/>
            <note xml:id="FID_41" place="foot"> ') Wie es beim Opferthier geschah, dessen Eingeweide untersucht wurden, der Vorbedeu¬<lb/>
tung wegen.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0456] sie den Kops des Sokrates auf die andere Seite, stieß ihm das Schwert bis ans Heft in die linke Seite hinein und fing mit einem kleinen Schlauch das hervorströmende Blut sorgfältig auf, daß auch kein Tropfen vergossen wurde. Und das habe ich mit meinen Augen angesehen. Dann, damit sie ihr Schlacht- opfer ganz nach dem Ritus behandelte,") steckte sie ihre Rechte durch die Wunde tief ins Eingeweide und holte nach langem Suchen das Herz meines armen Kameraden heraus, der, da ihm die Lunge zerschnitten war, die Luft pfeifend durch die Wunde entströmen ließ. Panthia verstopfte darauf die klaffende Wunde mit dem Schwamm, und sagte dazu: „Schwamm, Schwamm, Meeres¬ kind, hüte dich übern Fluß zu gehen!" Hieraus räumten sie mein Bett weg, setzten sich rittlings auf mich und verunreinigten mich auf ekelhafte Weise.- Kaum waren sie über die Schwelle, da erhoben sich die Thüren unversehrt, die Pfosten richten sich auf, die Angeln springen ein, die Riegel schließen. Ich aber, wie ich da auf der Erde lag, regungslos, matt, kalt, schmutzig, als käme ich eben aus dem Mutterleib, halbtodt oder eigentlich als hätte ich mich selbst überlebt, ein vollständiger Galgencandidat, dachte: „Was soll aus mir werden, wenn man in der Frühe den Ermordeten findet? Wer wird mir glauben, wenn ich die Wahrheit berichte? Du hättest doch um Hilfe rufen können, wenn du nicht Manns genug warst, den Weibern Widerstand zu leisten! Unter deinen Augen wird ein Mensch getödtet und du schweigst? warum haben dich denn die Mörder nicht umgebracht? wie konnte man bei solcher Grausamkeit den künftigen Angeber verschonen? Weil du damals dem Tode entgangen bist, wirst du ihn jetzt erleiden." Unter solchen Betrachtungen verging die Nacht, und da schien es am gerathensten, in der Dämmerung heimlich zu entweichen und mich mit meiner Angst auf den Weg zu machen. Ich nehme mein Gepäck auf und schiebe mit dem Schlüssel den Riegel zurück; aber die zuverlässige Thür, die in der Nacht von selbst ausgegangen war, war jetzt nur mit Mühe und wiederholten Anstrengungen zu öffnen. „Heda, wo bist du?" rief ich „mach das Thor auf, ich will vor Tagesanbruch fortgehen." Der Thürhüter, der am Eingang auf der Erde schlief, antwortete halb im Schlaf: „Was? weißt du nicht, daß die Landstraße von Räubern unsicher ist, daß du so früh fortwillst? Wenn du auch vielleicht ein Verbrechen aus der Seele hast und sterben willst, so sind unsere Köpfe doch keine Kürbisse, die wir deinetwegen hingeben möchten." „Es ist gleich Tag," sagte ich „und was können Räuber einem armen Rei¬ senden abnehmen? Weißt du nicht, du Narr, daß einen Nackten zehn Bade- knechte nicht entkleiden können?" Der drehte sich schlaftrunken auf die andere Seite und sagte: „Wer sagt mir denn, ob du nicht deinen Reisegefährten, mit ') Wie es beim Opferthier geschah, dessen Eingeweide untersucht wurden, der Vorbedeu¬ tung wegen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/456
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/456>, abgerufen am 27.09.2024.