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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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in eine andere Stadt, die auf einem hohen, felsigen, wasserarmen Berg lag.
Und weil sie so dicht bebaut war, daß kein Platz für den neuen Gast war.
warf sie das Haus vors Thor hin und ließ es da liegen." "Das sind ja
wunderbare Greuelthaten, die du da erzählst, Sokrates." sagte ich. "Aber nach¬
gerade erschreckst du mich auch und setzest mir zwar keinen Floh ins Ohr. aber
einen Wurm ins Herz, daß die Alte nicht durch einen ihrer dienenden Geister
auch unser Gespräch erfährt. Darum laß uns früh zu Bette gehen und wenn
wir uns durch Schlaf gestärkt haben, morgen vor Tages Anbruch fliehen so
weit wir können."

Als ich noch sprach, schnarchte mein guter Sokrates, von dem ungewohn¬
ten-Weingenuß nach der langen Mattigkeit ermüdet in tiefem Schlaf. Ich zog
die Thür fest an, legte den Riegel vor, schob mein Bett vor die Thür und legte
mich darauf. Anfangs konnte ich vor Furcht nicht schlafen, bis ich gegen Mit¬
ternacht doch einnickte. Kaum schlief ich, als plötzlich die Thürflügel mit Gewalt
Viel stärker als von einbrechenden Räubern, aufgerissen, mit den Pfosten ausge¬
hoben und hingeworfen wurden; mein kurzes morsches Bett mit einem wackeligen
Fuß wird umgestürzt, fällt über mich und bedeckt mich, wie ich aus der Erde liege.
Und da erfuhr ich, wie unwillkürlich sich in einem ganz widersprechende Em¬
pfindungen regen. Denn wie die Freude oft Thränen erpreßt, so konnte ich
bei der großen Angst das Lachen nicht unterdrücken, als ich mich so in eine
Schildkröte verwandelt sah. Als ich nun so am Boden liegend unter meinem
Bett hervor aufmerksam Acht gebe, was geschieht, sehe ich zwei Frauen in
vorgerücktem Alter, von denen die eine eine brennende Lampe, die andere einen
Schwamm und ein bloßes Schwert trug. So stellten sie sich neben den ruhig
schlafenden Sokrates und die mit dem Schwert hub an: "Da ist ja, Schwester
Panthia, mein süßer Endymion, mein Liebling, der Tag und Nacht meine
Jugendblüthe genoß und nun meiner Liebe überdrüssig mich verläumdet und
auf Flucht sinnt, und ich soll wie die vom schlauen Odysseus verlassene Kalyp-
so meine Einsamkeit beweinen." Dann streckte sie die Rechte aus, zeigte mich
der Panthia und sagte: "Und hier der gute Rathgeber Aristomenes, der ihm
zur Flucht verhelfen will und nun in Todesangst unter seinem Bett auf der
Erde liegt und das alles ansieht, denkt, er werde nach solcher Kränkung unge¬
straft davon kommen. Aber nachher oder bald, oder gleich soll er seinen Vor¬
witz von gestern und seine Neugier von heute bereuen." Als ich das hörte,
wurde ich mit kaltem Schweiße Übergossen,' ein Fieberfrost schüttelte meine Ein¬
geweide, daß von der Bewegung auch das Bett über mir erschüttert wurde.
"Wollen wir ihn denn zuerst," sagte die gute Panthia, "wie Bacchanten zer¬
reißen oder ihn in Stücke zerschneiden?" "Nein," sagte Meroe -- denn daß
ste es war, konnte ich aus der Erzählung des Sokrates abnehmen -- "er soll
überleben, um den Leichnam dieses Elenden zu bestatten." Damit wandte


in eine andere Stadt, die auf einem hohen, felsigen, wasserarmen Berg lag.
Und weil sie so dicht bebaut war, daß kein Platz für den neuen Gast war.
warf sie das Haus vors Thor hin und ließ es da liegen." „Das sind ja
wunderbare Greuelthaten, die du da erzählst, Sokrates." sagte ich. „Aber nach¬
gerade erschreckst du mich auch und setzest mir zwar keinen Floh ins Ohr. aber
einen Wurm ins Herz, daß die Alte nicht durch einen ihrer dienenden Geister
auch unser Gespräch erfährt. Darum laß uns früh zu Bette gehen und wenn
wir uns durch Schlaf gestärkt haben, morgen vor Tages Anbruch fliehen so
weit wir können."

Als ich noch sprach, schnarchte mein guter Sokrates, von dem ungewohn¬
ten-Weingenuß nach der langen Mattigkeit ermüdet in tiefem Schlaf. Ich zog
die Thür fest an, legte den Riegel vor, schob mein Bett vor die Thür und legte
mich darauf. Anfangs konnte ich vor Furcht nicht schlafen, bis ich gegen Mit¬
ternacht doch einnickte. Kaum schlief ich, als plötzlich die Thürflügel mit Gewalt
Viel stärker als von einbrechenden Räubern, aufgerissen, mit den Pfosten ausge¬
hoben und hingeworfen wurden; mein kurzes morsches Bett mit einem wackeligen
Fuß wird umgestürzt, fällt über mich und bedeckt mich, wie ich aus der Erde liege.
Und da erfuhr ich, wie unwillkürlich sich in einem ganz widersprechende Em¬
pfindungen regen. Denn wie die Freude oft Thränen erpreßt, so konnte ich
bei der großen Angst das Lachen nicht unterdrücken, als ich mich so in eine
Schildkröte verwandelt sah. Als ich nun so am Boden liegend unter meinem
Bett hervor aufmerksam Acht gebe, was geschieht, sehe ich zwei Frauen in
vorgerücktem Alter, von denen die eine eine brennende Lampe, die andere einen
Schwamm und ein bloßes Schwert trug. So stellten sie sich neben den ruhig
schlafenden Sokrates und die mit dem Schwert hub an: „Da ist ja, Schwester
Panthia, mein süßer Endymion, mein Liebling, der Tag und Nacht meine
Jugendblüthe genoß und nun meiner Liebe überdrüssig mich verläumdet und
auf Flucht sinnt, und ich soll wie die vom schlauen Odysseus verlassene Kalyp-
so meine Einsamkeit beweinen." Dann streckte sie die Rechte aus, zeigte mich
der Panthia und sagte: „Und hier der gute Rathgeber Aristomenes, der ihm
zur Flucht verhelfen will und nun in Todesangst unter seinem Bett auf der
Erde liegt und das alles ansieht, denkt, er werde nach solcher Kränkung unge¬
straft davon kommen. Aber nachher oder bald, oder gleich soll er seinen Vor¬
witz von gestern und seine Neugier von heute bereuen." Als ich das hörte,
wurde ich mit kaltem Schweiße Übergossen,' ein Fieberfrost schüttelte meine Ein¬
geweide, daß von der Bewegung auch das Bett über mir erschüttert wurde.
»Wollen wir ihn denn zuerst," sagte die gute Panthia, „wie Bacchanten zer¬
reißen oder ihn in Stücke zerschneiden?" „Nein," sagte Meroe — denn daß
ste es war, konnte ich aus der Erzählung des Sokrates abnehmen — „er soll
überleben, um den Leichnam dieses Elenden zu bestatten." Damit wandte


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[0455] in eine andere Stadt, die auf einem hohen, felsigen, wasserarmen Berg lag. Und weil sie so dicht bebaut war, daß kein Platz für den neuen Gast war. warf sie das Haus vors Thor hin und ließ es da liegen." „Das sind ja wunderbare Greuelthaten, die du da erzählst, Sokrates." sagte ich. „Aber nach¬ gerade erschreckst du mich auch und setzest mir zwar keinen Floh ins Ohr. aber einen Wurm ins Herz, daß die Alte nicht durch einen ihrer dienenden Geister auch unser Gespräch erfährt. Darum laß uns früh zu Bette gehen und wenn wir uns durch Schlaf gestärkt haben, morgen vor Tages Anbruch fliehen so weit wir können." Als ich noch sprach, schnarchte mein guter Sokrates, von dem ungewohn¬ ten-Weingenuß nach der langen Mattigkeit ermüdet in tiefem Schlaf. Ich zog die Thür fest an, legte den Riegel vor, schob mein Bett vor die Thür und legte mich darauf. Anfangs konnte ich vor Furcht nicht schlafen, bis ich gegen Mit¬ ternacht doch einnickte. Kaum schlief ich, als plötzlich die Thürflügel mit Gewalt Viel stärker als von einbrechenden Räubern, aufgerissen, mit den Pfosten ausge¬ hoben und hingeworfen wurden; mein kurzes morsches Bett mit einem wackeligen Fuß wird umgestürzt, fällt über mich und bedeckt mich, wie ich aus der Erde liege. Und da erfuhr ich, wie unwillkürlich sich in einem ganz widersprechende Em¬ pfindungen regen. Denn wie die Freude oft Thränen erpreßt, so konnte ich bei der großen Angst das Lachen nicht unterdrücken, als ich mich so in eine Schildkröte verwandelt sah. Als ich nun so am Boden liegend unter meinem Bett hervor aufmerksam Acht gebe, was geschieht, sehe ich zwei Frauen in vorgerücktem Alter, von denen die eine eine brennende Lampe, die andere einen Schwamm und ein bloßes Schwert trug. So stellten sie sich neben den ruhig schlafenden Sokrates und die mit dem Schwert hub an: „Da ist ja, Schwester Panthia, mein süßer Endymion, mein Liebling, der Tag und Nacht meine Jugendblüthe genoß und nun meiner Liebe überdrüssig mich verläumdet und auf Flucht sinnt, und ich soll wie die vom schlauen Odysseus verlassene Kalyp- so meine Einsamkeit beweinen." Dann streckte sie die Rechte aus, zeigte mich der Panthia und sagte: „Und hier der gute Rathgeber Aristomenes, der ihm zur Flucht verhelfen will und nun in Todesangst unter seinem Bett auf der Erde liegt und das alles ansieht, denkt, er werde nach solcher Kränkung unge¬ straft davon kommen. Aber nachher oder bald, oder gleich soll er seinen Vor¬ witz von gestern und seine Neugier von heute bereuen." Als ich das hörte, wurde ich mit kaltem Schweiße Übergossen,' ein Fieberfrost schüttelte meine Ein¬ geweide, daß von der Bewegung auch das Bett über mir erschüttert wurde. »Wollen wir ihn denn zuerst," sagte die gute Panthia, „wie Bacchanten zer¬ reißen oder ihn in Stücke zerschneiden?" „Nein," sagte Meroe — denn daß ste es war, konnte ich aus der Erzählung des Sokrates abnehmen — „er soll überleben, um den Leichnam dieses Elenden zu bestatten." Damit wandte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/455>, abgerufen am 20.10.2024.