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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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erstarrt den Zeigefinger aus den Mund, sah sich ängstlich um und flüsterte:
"Schweig still und sage nichts gegen die Zauberin, daß deine unbedachtsame
Zunge dich nicht schädige." "Was?" sagte ich, "was ist denn diese Kneipen-
königin für eine Person?" "Eine Hexe" sagte er "eine Zauberin, die den
Himmel herabzuziehen, die Erde in die Höhe zu heben, Quellen stocken, Berge
zerrinnen zu machen, Todte aus die Oberwelt zu rufen, Götter in die Unter¬
welt zu bannen, Gestirne auszulöschen, den Tartarus zu erhellen im Stande
ist." "Ich bitte dich," sagte ich, "steige vom Kothurn herab, leg die Maste ab
und rede menschlich." "Willst du," entgegnete er, "eine oder zwei oder noch mehr
Thatsachen hören? Daß nicht blos Landsleute, sondern jeder, Aethiopen, ja
sogar Antipoden rasend in sie verliebt sein müssen, das ist nur Kinderspiel für
ihre Kunst. Höre nur, was sie hier vor aller Augen verübt hat. Einen
Liebhaber, der sich mit einer andern vergangen hatte, verwandelte sie in einen
Biber, damit er sich selbst die empfindlichste Strafe zufügen sollte. Einen
Kneipwirth in der Nachbarschaft, der ihr Concurrenz machte, machte sie zu
einem Frosch, und jetzt sitzt der arme Alte auf dem Boden seines Weinfasses
und bewillkommnet seine alten Gäste mit heiserem Quaken. Einen Advokaten,
der gegen sie verhandelt hatte, verwandelte sie in einen Widder und noch immer
hält der Schafskopf Reden vor Gericht. Der Frau eines Liebhabers, die
ihrem Witz gegen sie freien Lauf gelassen hatte, verschloß sie den Schooß und
verdammte sie zu ewiger Schwangerschaft; alle können wahrnehmen, daß die
Unglückliche seit acht Jahren mit einem Leib umhergeht, als sollte sie einen
Elephanten gebären. Da sie nun soviel Unheil anrichtete, wuchs der Unwille
im Publikum und man beschloß, sie am folgenden Tag durch Steinigung zu
bestrafen; aber den Plan wußte sie durch ihre Zaubersprüche zu vereiteln. Wie
einst Medea durch den Aufschub eines Tages, den sie von Kreon erlangte,
sein Haus, seine Tochter, den Altar selbst mit ihrem Hochzeitsgeschenk in Flam¬
men setzte, so verschloß sie durch Beschwörungen, welche sie Leichen mit in die
Gruft gab'") -- so erzählte sie mir selbst in der Trunkenheit -- alle in ihren
Häusern mit so dämonischer Kraft, daß zwei Tage lang kein Schloß geöffnet,
keine Thür erbrochen, keine Wand eingerissen werden konnte, bis alle unter
lautem gegenseitigem Zurufen mit heiligen Eiden ihr zuschwören, nicht Hand
an sie zu legen und sie gegen jeden Angriff eines andern zu schützen. Da ließ
sie sich erweichen und gab die Stadt frei. Aber den Urheber des Anschlags
versetzte sie in tiefer Nacht mit seinem ganzen Hause, mit Mauern, Fundamen¬
ten, mit dem Grund und Boden, verschlossen wie es war, hundert Meilen weit



') Man hör in Gräbern Lleiplatten mit Verwünschungen und Zauberformeln gefunden,
die dadurch, daß man sie dem Todten mitgab, unlösbar wirksam werden sollten.

erstarrt den Zeigefinger aus den Mund, sah sich ängstlich um und flüsterte:
„Schweig still und sage nichts gegen die Zauberin, daß deine unbedachtsame
Zunge dich nicht schädige." „Was?" sagte ich, „was ist denn diese Kneipen-
königin für eine Person?" „Eine Hexe" sagte er „eine Zauberin, die den
Himmel herabzuziehen, die Erde in die Höhe zu heben, Quellen stocken, Berge
zerrinnen zu machen, Todte aus die Oberwelt zu rufen, Götter in die Unter¬
welt zu bannen, Gestirne auszulöschen, den Tartarus zu erhellen im Stande
ist." „Ich bitte dich," sagte ich, „steige vom Kothurn herab, leg die Maste ab
und rede menschlich." „Willst du," entgegnete er, „eine oder zwei oder noch mehr
Thatsachen hören? Daß nicht blos Landsleute, sondern jeder, Aethiopen, ja
sogar Antipoden rasend in sie verliebt sein müssen, das ist nur Kinderspiel für
ihre Kunst. Höre nur, was sie hier vor aller Augen verübt hat. Einen
Liebhaber, der sich mit einer andern vergangen hatte, verwandelte sie in einen
Biber, damit er sich selbst die empfindlichste Strafe zufügen sollte. Einen
Kneipwirth in der Nachbarschaft, der ihr Concurrenz machte, machte sie zu
einem Frosch, und jetzt sitzt der arme Alte auf dem Boden seines Weinfasses
und bewillkommnet seine alten Gäste mit heiserem Quaken. Einen Advokaten,
der gegen sie verhandelt hatte, verwandelte sie in einen Widder und noch immer
hält der Schafskopf Reden vor Gericht. Der Frau eines Liebhabers, die
ihrem Witz gegen sie freien Lauf gelassen hatte, verschloß sie den Schooß und
verdammte sie zu ewiger Schwangerschaft; alle können wahrnehmen, daß die
Unglückliche seit acht Jahren mit einem Leib umhergeht, als sollte sie einen
Elephanten gebären. Da sie nun soviel Unheil anrichtete, wuchs der Unwille
im Publikum und man beschloß, sie am folgenden Tag durch Steinigung zu
bestrafen; aber den Plan wußte sie durch ihre Zaubersprüche zu vereiteln. Wie
einst Medea durch den Aufschub eines Tages, den sie von Kreon erlangte,
sein Haus, seine Tochter, den Altar selbst mit ihrem Hochzeitsgeschenk in Flam¬
men setzte, so verschloß sie durch Beschwörungen, welche sie Leichen mit in die
Gruft gab'") — so erzählte sie mir selbst in der Trunkenheit — alle in ihren
Häusern mit so dämonischer Kraft, daß zwei Tage lang kein Schloß geöffnet,
keine Thür erbrochen, keine Wand eingerissen werden konnte, bis alle unter
lautem gegenseitigem Zurufen mit heiligen Eiden ihr zuschwören, nicht Hand
an sie zu legen und sie gegen jeden Angriff eines andern zu schützen. Da ließ
sie sich erweichen und gab die Stadt frei. Aber den Urheber des Anschlags
versetzte sie in tiefer Nacht mit seinem ganzen Hause, mit Mauern, Fundamen¬
ten, mit dem Grund und Boden, verschlossen wie es war, hundert Meilen weit



') Man hör in Gräbern Lleiplatten mit Verwünschungen und Zauberformeln gefunden,
die dadurch, daß man sie dem Todten mitgab, unlösbar wirksam werden sollten.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/454>, abgerufen am 27.09.2024.