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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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gereichen lassen, und neben dem glücklich erzielten Parteicompromiß in Sachen
der Parlamentsreform ist es ganz besonders diesem Umstände zuzuschreiben,
daß die Derby, Stanley und d'Jsraeli aller gegentheiligen Prophezeiungen zum
Trotz 18 Monate lang im Amte geblieben sind und Aussicht haben sich noch länger
zu erhalten. Die Kälte und Rücksichtslosigkeit, mit welcher die englischen Minister
ihre Bedenken gegen die Konferenz im Unterhause geltend gemacht haben, ist darum
Niemand eine Ueberraschung gewesen; das Verhältniß zu Frankreich ist seit
lange in das Gleis ruhigen Nebeneinandergehens gerückt worden und das Er¬
bleichen des kaiserlichen Sterns ist nicht geeignet, zur Auffrischung der alten
ertönte evräialö einzuladen. Von den Depeschen, welche die englischen Blau-
büchcr dem Herkommen gemäß auch noch gegenwärtig enthalten, nehmen die
auf Abessinien bezüglichen Aktenstücke den größten Raum und das haupt¬
sächlichste Interesse in Anspruch!

Es ist herkömmlich, die englische Zurückhaltung von Fragen der großen
Politik als mit der Würde und Ehre einer Großmacht unvereinbar zu halten.
Und doch steht dieselbe in naher Beziehung zu der großen Veränderung, welche
sich seit den letzten zehn Jahren im internationalen Leben unseres Kontinents
vollzogen hat. Seit das alte System der europäischen Politik aufgelöst, die
Grundlage für ein neues System der internationalen Beziehungen noch nicht
gewonnen worden ist, sind alle Versuche großer und kleiner Diplomaten,
die Geschichte der einzelnen Glieder unseres Welttheils von einem Punkte aus
zu regeln, erfolglos zu Boden gefallen: in der luxemburger Angelegenheit ist
kein Schiedsspruch gefällt, sondern ein Kompromiß der Betheiligten herbei¬
geführt werden, wie er bezüglich der römisch-italienischen Frage absolut unmög¬
lich ist. Bevor nicht das Fundament eines neuen Staats- und Völkerrechtes
gefunden ist, das wiederum die freie Consolidation der einzelnen Völker zur
Voraussetzung hat, ist jedes Bemühen, die europäischen Fürsten zu Richtern
darüber zu machen, in wieweit die Wünsche der einzelnen Völker mit der all¬
gemeinen Wohlfahrt vereinbar sind, vergeblich und dazu unberechtigt. Das
fühlen sämmtliche europäische Kabinette mit mehr oder minderer Klarheit, und
daß England dieser Abneigung gegen Verhandlungen ohne Grundlage und
greifbares Ziel zuerst und am deutlichsten Ausdruck gegeben hat, scheint uns
darauf hinzuweisen, daß der älteste Rechtsstaat des Welttheils die lebhafteste
Empfindung für eine Forderung der Neuzeit hat, die sich durchsetzen wird, mag
die gegenwärtig projektirte Konferenz zu Stande kommen oder nicht. Bevor
die einzelnen Völker unseres Welttheils sich naturgemäß konstituirt haben, ist
jedes Bemühen, ihre inneren Verhältnisse durch die Gesammtheit zu regeln ver¬
geblich, das gegenwärtige Stadium der Jsolirung eine berechtigte innere
Nothwendigkeit.




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gereichen lassen, und neben dem glücklich erzielten Parteicompromiß in Sachen
der Parlamentsreform ist es ganz besonders diesem Umstände zuzuschreiben,
daß die Derby, Stanley und d'Jsraeli aller gegentheiligen Prophezeiungen zum
Trotz 18 Monate lang im Amte geblieben sind und Aussicht haben sich noch länger
zu erhalten. Die Kälte und Rücksichtslosigkeit, mit welcher die englischen Minister
ihre Bedenken gegen die Konferenz im Unterhause geltend gemacht haben, ist darum
Niemand eine Ueberraschung gewesen; das Verhältniß zu Frankreich ist seit
lange in das Gleis ruhigen Nebeneinandergehens gerückt worden und das Er¬
bleichen des kaiserlichen Sterns ist nicht geeignet, zur Auffrischung der alten
ertönte evräialö einzuladen. Von den Depeschen, welche die englischen Blau-
büchcr dem Herkommen gemäß auch noch gegenwärtig enthalten, nehmen die
auf Abessinien bezüglichen Aktenstücke den größten Raum und das haupt¬
sächlichste Interesse in Anspruch!

Es ist herkömmlich, die englische Zurückhaltung von Fragen der großen
Politik als mit der Würde und Ehre einer Großmacht unvereinbar zu halten.
Und doch steht dieselbe in naher Beziehung zu der großen Veränderung, welche
sich seit den letzten zehn Jahren im internationalen Leben unseres Kontinents
vollzogen hat. Seit das alte System der europäischen Politik aufgelöst, die
Grundlage für ein neues System der internationalen Beziehungen noch nicht
gewonnen worden ist, sind alle Versuche großer und kleiner Diplomaten,
die Geschichte der einzelnen Glieder unseres Welttheils von einem Punkte aus
zu regeln, erfolglos zu Boden gefallen: in der luxemburger Angelegenheit ist
kein Schiedsspruch gefällt, sondern ein Kompromiß der Betheiligten herbei¬
geführt werden, wie er bezüglich der römisch-italienischen Frage absolut unmög¬
lich ist. Bevor nicht das Fundament eines neuen Staats- und Völkerrechtes
gefunden ist, das wiederum die freie Consolidation der einzelnen Völker zur
Voraussetzung hat, ist jedes Bemühen, die europäischen Fürsten zu Richtern
darüber zu machen, in wieweit die Wünsche der einzelnen Völker mit der all¬
gemeinen Wohlfahrt vereinbar sind, vergeblich und dazu unberechtigt. Das
fühlen sämmtliche europäische Kabinette mit mehr oder minderer Klarheit, und
daß England dieser Abneigung gegen Verhandlungen ohne Grundlage und
greifbares Ziel zuerst und am deutlichsten Ausdruck gegeben hat, scheint uns
darauf hinzuweisen, daß der älteste Rechtsstaat des Welttheils die lebhafteste
Empfindung für eine Forderung der Neuzeit hat, die sich durchsetzen wird, mag
die gegenwärtig projektirte Konferenz zu Stande kommen oder nicht. Bevor
die einzelnen Völker unseres Welttheils sich naturgemäß konstituirt haben, ist
jedes Bemühen, ihre inneren Verhältnisse durch die Gesammtheit zu regeln ver¬
geblich, das gegenwärtige Stadium der Jsolirung eine berechtigte innere
Nothwendigkeit.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/403>, abgerufen am 27.09.2024.