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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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sein; nichts destoweniger ist die Aufrechthaltung und weitere Verbreitung dieser
"neuen Formel der Civilisation" eins der Hauptziele der moskauer nationalen,
die den Liv-, Est- und Kurländern keinen schlimmeren Vorwurf zu machen
wissen, als den, daß es in ihrer Heimat "lautlose" Leute gebe. Ebenso über¬
flüssig erscheint es, die Vorzüge des Protestantismus vor der griech. orth.
Kirche und der s. g. "byzantinischen Cultur" ausdrücklich zu erörtern: die That¬
sache, daß es in den Ostseeprovinzen ein vortrefflich organisirtes, von der tuts.
Geistlichkeit geleitetes Nolksschulwesen gieb tund daß die griechischen Priester weder
im Innern des Reichs noch in Livland Schulen ins Leben zu rufen in Stande
waren, genügt statt aller übrigen Argumente. Anders steht es allerdings be¬
züglich der modernen russischen Justiz und Provinzialverfassung, die theoretisch
vieles vor den entsprechenden baltischen Instituten voraus hat. Aber auch hier
wäre eine Reform nach russischer Schablone vom Uebel. Die russische Gouver-
nemcntslcmdschaft vereinigt allerdings alle Stände zur Berathung der Provin-
zialinteressen, während diesseit des Peipussees allein der Adel und die Stadt
Riga auf den Landtagen vertreten sind, -- aber der Competcnzkreis und das
Selbstbestimmuncssrecht der russischen Landschaft sind so beschränkt, daß ihre
Einführung für Liv-, Est- und Kurland mit einem Verzicht auf die Selbstver¬
waltung beinahe gleichbedeutend wäre. Dazu kommt, daß nach dem Land-
schaftostatut alle Macht in den Händen des numerisch am stärksten vertretenen
Bauernstandes ruht, die gebildeten Classen von diesem niedergehalten werden
und aus diesem Grunde die Bureaukratie allenthalben als die entscheidende
Scbiedsricbterin eintritt. In der russischen Presse herrscht nur eine Stimme
darüber, daß die überwiegende Mehrzahl der russischen Gouvernementsland-
schaficn (Moskau und Petersburg, die vollständig vom Adel beherrscht werden,
allein ausgenommen) so gut wie nichts geleistet hat: die Masse der ungebildeten
Deputirten sieht theilnahmlos dem Treiben einzelner "kaiseurs" zu. die sich
hoch bezahlte Posten in den landschaftlichen Verwaltungsausschüssen sichern
und die Zeit mit unfruchtbare" Discussionen todten. Die Freiheit hat aus
verschiedenen Culturstufen verschiedene Formen; wo die Massen höherer Bildung
noch nicht theilhaft sind, behauptet die Aristokratie der Gebildeten ein ange¬
borenes Recht, und wird künstlich die Gleichberechtigung aller erzwungen, so
herrscht thatsächlich die gleiche Unfreiheit d. h. Abhängkeit von der Bureau¬
kratie für alle. Daß die Liv-, Est- und Kurländer aber lieber von ihren Aristo¬
kraten als von uniformirten Sendungen der moskauer Demokratie abhängig
sind, daß sie sich davor scheuen, die erst auf dem Wege zur Bildung begriffenen
Letten und Ehlen sofort zur eigentlich regierenden Classe zu machen, das hat
seinen guten, aus tausendfachen Erfahrungen gewonnenen Grund. Sobald
aber von der bedingungslosen Ausdehnung modern-russischer Institute abgesehen
wird, stößt jedes baltische Neformbcstreben aus unendliche Schwierigkeiten;


sein; nichts destoweniger ist die Aufrechthaltung und weitere Verbreitung dieser
„neuen Formel der Civilisation" eins der Hauptziele der moskauer nationalen,
die den Liv-, Est- und Kurländern keinen schlimmeren Vorwurf zu machen
wissen, als den, daß es in ihrer Heimat „lautlose" Leute gebe. Ebenso über¬
flüssig erscheint es, die Vorzüge des Protestantismus vor der griech. orth.
Kirche und der s. g. „byzantinischen Cultur" ausdrücklich zu erörtern: die That¬
sache, daß es in den Ostseeprovinzen ein vortrefflich organisirtes, von der tuts.
Geistlichkeit geleitetes Nolksschulwesen gieb tund daß die griechischen Priester weder
im Innern des Reichs noch in Livland Schulen ins Leben zu rufen in Stande
waren, genügt statt aller übrigen Argumente. Anders steht es allerdings be¬
züglich der modernen russischen Justiz und Provinzialverfassung, die theoretisch
vieles vor den entsprechenden baltischen Instituten voraus hat. Aber auch hier
wäre eine Reform nach russischer Schablone vom Uebel. Die russische Gouver-
nemcntslcmdschaft vereinigt allerdings alle Stände zur Berathung der Provin-
zialinteressen, während diesseit des Peipussees allein der Adel und die Stadt
Riga auf den Landtagen vertreten sind, — aber der Competcnzkreis und das
Selbstbestimmuncssrecht der russischen Landschaft sind so beschränkt, daß ihre
Einführung für Liv-, Est- und Kurland mit einem Verzicht auf die Selbstver¬
waltung beinahe gleichbedeutend wäre. Dazu kommt, daß nach dem Land-
schaftostatut alle Macht in den Händen des numerisch am stärksten vertretenen
Bauernstandes ruht, die gebildeten Classen von diesem niedergehalten werden
und aus diesem Grunde die Bureaukratie allenthalben als die entscheidende
Scbiedsricbterin eintritt. In der russischen Presse herrscht nur eine Stimme
darüber, daß die überwiegende Mehrzahl der russischen Gouvernementsland-
schaficn (Moskau und Petersburg, die vollständig vom Adel beherrscht werden,
allein ausgenommen) so gut wie nichts geleistet hat: die Masse der ungebildeten
Deputirten sieht theilnahmlos dem Treiben einzelner „kaiseurs" zu. die sich
hoch bezahlte Posten in den landschaftlichen Verwaltungsausschüssen sichern
und die Zeit mit unfruchtbare» Discussionen todten. Die Freiheit hat aus
verschiedenen Culturstufen verschiedene Formen; wo die Massen höherer Bildung
noch nicht theilhaft sind, behauptet die Aristokratie der Gebildeten ein ange¬
borenes Recht, und wird künstlich die Gleichberechtigung aller erzwungen, so
herrscht thatsächlich die gleiche Unfreiheit d. h. Abhängkeit von der Bureau¬
kratie für alle. Daß die Liv-, Est- und Kurländer aber lieber von ihren Aristo¬
kraten als von uniformirten Sendungen der moskauer Demokratie abhängig
sind, daß sie sich davor scheuen, die erst auf dem Wege zur Bildung begriffenen
Letten und Ehlen sofort zur eigentlich regierenden Classe zu machen, das hat
seinen guten, aus tausendfachen Erfahrungen gewonnenen Grund. Sobald
aber von der bedingungslosen Ausdehnung modern-russischer Institute abgesehen
wird, stößt jedes baltische Neformbcstreben aus unendliche Schwierigkeiten;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/380>, abgerufen am 27.09.2024.