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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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der, vollständig unberechtigter Eindringling behandelt, von dem man kaum weiß,
wo er her ist, was er will und wie er heißt. Während die russische Presse,
wenn sie vor dem Jahre 1863 gegen den baltischen Provinzialstaat zu Felde
zog, sich der liberalen Phrase als eines schützenden Feigenblattes bediente und
unermüdlich versicherte, es handele sich keineswegs darum, russificatorisch vorzu¬
gehen, das baltisch-deutsche Leben habe nur durch die Abwendung von den Zeit¬
ideen sein Existenzrecht verwirkt, macht die Demokratie von heute kein Hehl
mehr daraus, daß ihre Feindschaft nicht auf demokratischen, sondern auf natio¬
nalen Instinkten beruhe, ja das Hauptargumcnt, welches die Most. Ztg. bei
ihren Kreuzzugspredigtcn geltend macht, ist gerade der Satz, daß die baltischen
Deutschen Miene machten, durch Adoption einer freisinnigen Provinzialpolitik
unbesiegbar zu werden und daß ihrem Treiben ein Ende gemacht werden müsse,
noch bevor sie ihre alten aristokratischen Vorurtheile aufgegeben.

Wie lange die Ostseeprovinzen dieser bereits mehrere Jahre dauernden Be¬
lagerung durch die demokratische Nationalpartei Stand halten werden, läßt sich
um so weniger absehen, als sie in diesen Kampf getreten sind, ehe es ihnen
möglich gewesen, eine Reform von Innen heraus an sich vorzunehmen und durch
diese ihre Kräfte zu verdoppeln. Die gegenwärtige Verfassung des Ostseege¬
biets bietet den Gegnern in der That zahlreiche Angriffspunkte; da der Angriff
aber längst beschlossen war und seinen eigentlichen Grund in der Beschaffen¬
heit des Parteiprogramms hat, welches die russische Gesellschaft beherrscht,
kommen die Mängel der baltischen Zustände eigentlich nur in Betracht, inso¬
weit sie den Angegriffenen die Vertheidigung erschweren; für nasus delli können
sie seit lange nicht mehr gelten, und es ist ein Wahn, wenn man glaubt, die
Liv-, Est- und Kurländer könnten ihre Feinde durch energische Reformarbeit
entwaffnen. Auf dem Reformeiser der baltischen Liberalen lastet schon seit lange
das lähmende Bewußtsein, daß -- geschehe was da wolle -- die Zufriedenheit der
die russische öffentliche Meinung beherrschenden Partei niemals erzielt werden
könne, so lange nicht principieller Verzicht auf die deutsch-protestantischen Tra¬
ditionen des Landes geleistet worden.

Mit dem Vorwand, es handele sich bei dem Vorgehen gegen die Ostsee-
Provinzen um liberale russische Nesonnwünsche, um die Ausdehnung moderner
Institutionen auf eine Burg des Mittelalters, wird heut zu Tage nur noch
die Einfalt radicaler deutscher Demokraten geködert. Von der Mehrzahl der
Institutionen, die Jungrußland auf baltisch-deutsche Erde verpflanzen will, läßt
sich geradezu nachweisen, daß sie den zu reformirenden Ländern keinen wirk-
lichen Fortschritt bringen würden. Europäisch gebildeten Lesern zu beweisen,
daß das altrussische Institut des Gcmeindeeigenthums und der Aushebung des
Persönlichen Besitzes am Grund und Boden identisch ist mit der Vernichtung
aller rationellen Landwirthschaft und alles Productionseifers, dürste überflüssig


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der, vollständig unberechtigter Eindringling behandelt, von dem man kaum weiß,
wo er her ist, was er will und wie er heißt. Während die russische Presse,
wenn sie vor dem Jahre 1863 gegen den baltischen Provinzialstaat zu Felde
zog, sich der liberalen Phrase als eines schützenden Feigenblattes bediente und
unermüdlich versicherte, es handele sich keineswegs darum, russificatorisch vorzu¬
gehen, das baltisch-deutsche Leben habe nur durch die Abwendung von den Zeit¬
ideen sein Existenzrecht verwirkt, macht die Demokratie von heute kein Hehl
mehr daraus, daß ihre Feindschaft nicht auf demokratischen, sondern auf natio¬
nalen Instinkten beruhe, ja das Hauptargumcnt, welches die Most. Ztg. bei
ihren Kreuzzugspredigtcn geltend macht, ist gerade der Satz, daß die baltischen
Deutschen Miene machten, durch Adoption einer freisinnigen Provinzialpolitik
unbesiegbar zu werden und daß ihrem Treiben ein Ende gemacht werden müsse,
noch bevor sie ihre alten aristokratischen Vorurtheile aufgegeben.

Wie lange die Ostseeprovinzen dieser bereits mehrere Jahre dauernden Be¬
lagerung durch die demokratische Nationalpartei Stand halten werden, läßt sich
um so weniger absehen, als sie in diesen Kampf getreten sind, ehe es ihnen
möglich gewesen, eine Reform von Innen heraus an sich vorzunehmen und durch
diese ihre Kräfte zu verdoppeln. Die gegenwärtige Verfassung des Ostseege¬
biets bietet den Gegnern in der That zahlreiche Angriffspunkte; da der Angriff
aber längst beschlossen war und seinen eigentlichen Grund in der Beschaffen¬
heit des Parteiprogramms hat, welches die russische Gesellschaft beherrscht,
kommen die Mängel der baltischen Zustände eigentlich nur in Betracht, inso¬
weit sie den Angegriffenen die Vertheidigung erschweren; für nasus delli können
sie seit lange nicht mehr gelten, und es ist ein Wahn, wenn man glaubt, die
Liv-, Est- und Kurländer könnten ihre Feinde durch energische Reformarbeit
entwaffnen. Auf dem Reformeiser der baltischen Liberalen lastet schon seit lange
das lähmende Bewußtsein, daß — geschehe was da wolle — die Zufriedenheit der
die russische öffentliche Meinung beherrschenden Partei niemals erzielt werden
könne, so lange nicht principieller Verzicht auf die deutsch-protestantischen Tra¬
ditionen des Landes geleistet worden.

Mit dem Vorwand, es handele sich bei dem Vorgehen gegen die Ostsee-
Provinzen um liberale russische Nesonnwünsche, um die Ausdehnung moderner
Institutionen auf eine Burg des Mittelalters, wird heut zu Tage nur noch
die Einfalt radicaler deutscher Demokraten geködert. Von der Mehrzahl der
Institutionen, die Jungrußland auf baltisch-deutsche Erde verpflanzen will, läßt
sich geradezu nachweisen, daß sie den zu reformirenden Ländern keinen wirk-
lichen Fortschritt bringen würden. Europäisch gebildeten Lesern zu beweisen,
daß das altrussische Institut des Gcmeindeeigenthums und der Aushebung des
Persönlichen Besitzes am Grund und Boden identisch ist mit der Vernichtung
aller rationellen Landwirthschaft und alles Productionseifers, dürste überflüssig


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[0379] der, vollständig unberechtigter Eindringling behandelt, von dem man kaum weiß, wo er her ist, was er will und wie er heißt. Während die russische Presse, wenn sie vor dem Jahre 1863 gegen den baltischen Provinzialstaat zu Felde zog, sich der liberalen Phrase als eines schützenden Feigenblattes bediente und unermüdlich versicherte, es handele sich keineswegs darum, russificatorisch vorzu¬ gehen, das baltisch-deutsche Leben habe nur durch die Abwendung von den Zeit¬ ideen sein Existenzrecht verwirkt, macht die Demokratie von heute kein Hehl mehr daraus, daß ihre Feindschaft nicht auf demokratischen, sondern auf natio¬ nalen Instinkten beruhe, ja das Hauptargumcnt, welches die Most. Ztg. bei ihren Kreuzzugspredigtcn geltend macht, ist gerade der Satz, daß die baltischen Deutschen Miene machten, durch Adoption einer freisinnigen Provinzialpolitik unbesiegbar zu werden und daß ihrem Treiben ein Ende gemacht werden müsse, noch bevor sie ihre alten aristokratischen Vorurtheile aufgegeben. Wie lange die Ostseeprovinzen dieser bereits mehrere Jahre dauernden Be¬ lagerung durch die demokratische Nationalpartei Stand halten werden, läßt sich um so weniger absehen, als sie in diesen Kampf getreten sind, ehe es ihnen möglich gewesen, eine Reform von Innen heraus an sich vorzunehmen und durch diese ihre Kräfte zu verdoppeln. Die gegenwärtige Verfassung des Ostseege¬ biets bietet den Gegnern in der That zahlreiche Angriffspunkte; da der Angriff aber längst beschlossen war und seinen eigentlichen Grund in der Beschaffen¬ heit des Parteiprogramms hat, welches die russische Gesellschaft beherrscht, kommen die Mängel der baltischen Zustände eigentlich nur in Betracht, inso¬ weit sie den Angegriffenen die Vertheidigung erschweren; für nasus delli können sie seit lange nicht mehr gelten, und es ist ein Wahn, wenn man glaubt, die Liv-, Est- und Kurländer könnten ihre Feinde durch energische Reformarbeit entwaffnen. Auf dem Reformeiser der baltischen Liberalen lastet schon seit lange das lähmende Bewußtsein, daß — geschehe was da wolle — die Zufriedenheit der die russische öffentliche Meinung beherrschenden Partei niemals erzielt werden könne, so lange nicht principieller Verzicht auf die deutsch-protestantischen Tra¬ ditionen des Landes geleistet worden. Mit dem Vorwand, es handele sich bei dem Vorgehen gegen die Ostsee- Provinzen um liberale russische Nesonnwünsche, um die Ausdehnung moderner Institutionen auf eine Burg des Mittelalters, wird heut zu Tage nur noch die Einfalt radicaler deutscher Demokraten geködert. Von der Mehrzahl der Institutionen, die Jungrußland auf baltisch-deutsche Erde verpflanzen will, läßt sich geradezu nachweisen, daß sie den zu reformirenden Ländern keinen wirk- lichen Fortschritt bringen würden. Europäisch gebildeten Lesern zu beweisen, daß das altrussische Institut des Gcmeindeeigenthums und der Aushebung des Persönlichen Besitzes am Grund und Boden identisch ist mit der Vernichtung aller rationellen Landwirthschaft und alles Productionseifers, dürste überflüssig 48*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/379>, abgerufen am 20.10.2024.