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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Ostseeprovinzen wäre die Durchführung dieser einen Maßregel allerdings schon
ein schwerer Schlag; ganz abgesehen von den weiteren Konsequenzen wäre die
Durchbrechung der Einheit der baltischen Geschäftssprache identisch mit einer man¬
gelhaften, blos äußerlichen Behandlung der wichtigsten Angelegenheiten, mit einer
in alle Zweige des öffentlichen Lebens eingreifenden empfindlichen Störung des
geschäftlichen Verkehrs und mit der Anstellung zahlreicher, den wahren Bedürfnissen
des Landes fremder Beamten -- die Nationalpartei aber sieht die Wiederauf-
rührung des Ukases von 1850 nur als den Vorläufer eines ganz neuen Systems
an, dessen Dringlichkeit von ihr schon seit Jahren gepredigt wird. Dieses
System ist von den Publicisten Mostaus und Petersburgs so oft und so ausführ-
Uch behandelt werden, daß es Jedem, der mit den Verhältnissen irgend ver¬
traut ist, in allen Einzelheiten klar ist. Es handelt sich um nichts mehr und
nichts weniger, als die Adoptation derselben Maßregeln, mit denen nach Nie¬
derschlagung des Aufstandes von 1863 in Polen und Litthauen vorgegangen
worden ist.

Vor Allem wird es auf radicale Umgestaltung der Agrarverhältnisse ab¬
gesehen. Ohne Rücksicht darauf, daß bereits ein beträchtlicher Theil der Bauer-
Höfe >n Liv-. Est- und Kurland zufolge freier Vereinbarung und mit Hilfe
besonderer Banken in bäuerliches Eigenthum übergegangen ist, daß der Zeitpunkt
für eine gewaltsame Umsetzung aller Pachter in Eigenthum der Pächter längst
vorüber ist und bei der allgemeinen Verschuldung der Rittergüter (einer Folge
des plötzlichen Uebergangs von der Naiural- zur Geldwirth>abäst) nur um den
Preis des materiellen Ruins aller Eapllalisten mögltch wäre -- soll nach lithaui¬
schen Muster eingegriffen und alles von Bauern besessene Land sofort in bäuer¬
liches Eigenthum umgewandelt werden. Dabei will der Fanatismus der moskauer
Radicalen aber keineswegs stehen bleiben; den Anhängern des Gemeindebesitzes,
ist es ein Gräuel, daß ein U"terschied zwischen Bauerwirthen und Knechten be¬
steht; da ihrer Anschauung nach Alle den gleichen Anspruch auf die Mutter
Erde besitzen, müssen die großen geschlossenen Bauerhöfe gesprengt und in klei¬
nen Parcellen unter das Proletariat vertheilt werde". Nicht undeutlich läßt
man dabei durchsehen, daß es am geeignetsten wäre, die Theilnahme an diesen
großmüthigen Dotationen von dem Uebertritt der Dotirten zur griech.-vrih.
Kirche abhängig zu machen. Mit besonderem Eifer wirb die Regierung gedrängt,
wenigstens auf ihren (namentlich in Kurland außerordentlich zahlreichen) Do¬
mänengütern in der angegebenen Weise vorzugehen und dadurch in den stutus
puo der baltischen Agrarverhältnisse Bresche zu schießen. Diese Revolution
soll die Grundlage deS neuen Systems bilden. Um Letten und Ehlen aber zu¬
gleich auf geistigem Gebiet zu isoliren und von deutschem Einfluß loszumachen, ver¬
langen die Katkow, Aksakow u. A. die vollständige Beseitigung des deutschen Schul¬
wesens. Hand in Hand mit einer kleinen Partei keltischer Journalisten wird sü'r


Ostseeprovinzen wäre die Durchführung dieser einen Maßregel allerdings schon
ein schwerer Schlag; ganz abgesehen von den weiteren Konsequenzen wäre die
Durchbrechung der Einheit der baltischen Geschäftssprache identisch mit einer man¬
gelhaften, blos äußerlichen Behandlung der wichtigsten Angelegenheiten, mit einer
in alle Zweige des öffentlichen Lebens eingreifenden empfindlichen Störung des
geschäftlichen Verkehrs und mit der Anstellung zahlreicher, den wahren Bedürfnissen
des Landes fremder Beamten — die Nationalpartei aber sieht die Wiederauf-
rührung des Ukases von 1850 nur als den Vorläufer eines ganz neuen Systems
an, dessen Dringlichkeit von ihr schon seit Jahren gepredigt wird. Dieses
System ist von den Publicisten Mostaus und Petersburgs so oft und so ausführ-
Uch behandelt werden, daß es Jedem, der mit den Verhältnissen irgend ver¬
traut ist, in allen Einzelheiten klar ist. Es handelt sich um nichts mehr und
nichts weniger, als die Adoptation derselben Maßregeln, mit denen nach Nie¬
derschlagung des Aufstandes von 1863 in Polen und Litthauen vorgegangen
worden ist.

Vor Allem wird es auf radicale Umgestaltung der Agrarverhältnisse ab¬
gesehen. Ohne Rücksicht darauf, daß bereits ein beträchtlicher Theil der Bauer-
Höfe >n Liv-. Est- und Kurland zufolge freier Vereinbarung und mit Hilfe
besonderer Banken in bäuerliches Eigenthum übergegangen ist, daß der Zeitpunkt
für eine gewaltsame Umsetzung aller Pachter in Eigenthum der Pächter längst
vorüber ist und bei der allgemeinen Verschuldung der Rittergüter (einer Folge
des plötzlichen Uebergangs von der Naiural- zur Geldwirth>abäst) nur um den
Preis des materiellen Ruins aller Eapllalisten mögltch wäre — soll nach lithaui¬
schen Muster eingegriffen und alles von Bauern besessene Land sofort in bäuer¬
liches Eigenthum umgewandelt werden. Dabei will der Fanatismus der moskauer
Radicalen aber keineswegs stehen bleiben; den Anhängern des Gemeindebesitzes,
ist es ein Gräuel, daß ein U»terschied zwischen Bauerwirthen und Knechten be¬
steht; da ihrer Anschauung nach Alle den gleichen Anspruch auf die Mutter
Erde besitzen, müssen die großen geschlossenen Bauerhöfe gesprengt und in klei¬
nen Parcellen unter das Proletariat vertheilt werde». Nicht undeutlich läßt
man dabei durchsehen, daß es am geeignetsten wäre, die Theilnahme an diesen
großmüthigen Dotationen von dem Uebertritt der Dotirten zur griech.-vrih.
Kirche abhängig zu machen. Mit besonderem Eifer wirb die Regierung gedrängt,
wenigstens auf ihren (namentlich in Kurland außerordentlich zahlreichen) Do¬
mänengütern in der angegebenen Weise vorzugehen und dadurch in den stutus
puo der baltischen Agrarverhältnisse Bresche zu schießen. Diese Revolution
soll die Grundlage deS neuen Systems bilden. Um Letten und Ehlen aber zu¬
gleich auf geistigem Gebiet zu isoliren und von deutschem Einfluß loszumachen, ver¬
langen die Katkow, Aksakow u. A. die vollständige Beseitigung des deutschen Schul¬
wesens. Hand in Hand mit einer kleinen Partei keltischer Journalisten wird sü'r


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[0376] Ostseeprovinzen wäre die Durchführung dieser einen Maßregel allerdings schon ein schwerer Schlag; ganz abgesehen von den weiteren Konsequenzen wäre die Durchbrechung der Einheit der baltischen Geschäftssprache identisch mit einer man¬ gelhaften, blos äußerlichen Behandlung der wichtigsten Angelegenheiten, mit einer in alle Zweige des öffentlichen Lebens eingreifenden empfindlichen Störung des geschäftlichen Verkehrs und mit der Anstellung zahlreicher, den wahren Bedürfnissen des Landes fremder Beamten — die Nationalpartei aber sieht die Wiederauf- rührung des Ukases von 1850 nur als den Vorläufer eines ganz neuen Systems an, dessen Dringlichkeit von ihr schon seit Jahren gepredigt wird. Dieses System ist von den Publicisten Mostaus und Petersburgs so oft und so ausführ- Uch behandelt werden, daß es Jedem, der mit den Verhältnissen irgend ver¬ traut ist, in allen Einzelheiten klar ist. Es handelt sich um nichts mehr und nichts weniger, als die Adoptation derselben Maßregeln, mit denen nach Nie¬ derschlagung des Aufstandes von 1863 in Polen und Litthauen vorgegangen worden ist. Vor Allem wird es auf radicale Umgestaltung der Agrarverhältnisse ab¬ gesehen. Ohne Rücksicht darauf, daß bereits ein beträchtlicher Theil der Bauer- Höfe >n Liv-. Est- und Kurland zufolge freier Vereinbarung und mit Hilfe besonderer Banken in bäuerliches Eigenthum übergegangen ist, daß der Zeitpunkt für eine gewaltsame Umsetzung aller Pachter in Eigenthum der Pächter längst vorüber ist und bei der allgemeinen Verschuldung der Rittergüter (einer Folge des plötzlichen Uebergangs von der Naiural- zur Geldwirth>abäst) nur um den Preis des materiellen Ruins aller Eapllalisten mögltch wäre — soll nach lithaui¬ schen Muster eingegriffen und alles von Bauern besessene Land sofort in bäuer¬ liches Eigenthum umgewandelt werden. Dabei will der Fanatismus der moskauer Radicalen aber keineswegs stehen bleiben; den Anhängern des Gemeindebesitzes, ist es ein Gräuel, daß ein U»terschied zwischen Bauerwirthen und Knechten be¬ steht; da ihrer Anschauung nach Alle den gleichen Anspruch auf die Mutter Erde besitzen, müssen die großen geschlossenen Bauerhöfe gesprengt und in klei¬ nen Parcellen unter das Proletariat vertheilt werde». Nicht undeutlich läßt man dabei durchsehen, daß es am geeignetsten wäre, die Theilnahme an diesen großmüthigen Dotationen von dem Uebertritt der Dotirten zur griech.-vrih. Kirche abhängig zu machen. Mit besonderem Eifer wirb die Regierung gedrängt, wenigstens auf ihren (namentlich in Kurland außerordentlich zahlreichen) Do¬ mänengütern in der angegebenen Weise vorzugehen und dadurch in den stutus puo der baltischen Agrarverhältnisse Bresche zu schießen. Diese Revolution soll die Grundlage deS neuen Systems bilden. Um Letten und Ehlen aber zu¬ gleich auf geistigem Gebiet zu isoliren und von deutschem Einfluß loszumachen, ver¬ langen die Katkow, Aksakow u. A. die vollständige Beseitigung des deutschen Schul¬ wesens. Hand in Hand mit einer kleinen Partei keltischer Journalisten wird sü'r

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/376>, abgerufen am 27.09.2024.